Mehr Eingliederungshilfe,
mehr Teilhabe für Behinderte
Stellen Sie sich vor, Sie sind behindert, Sie brauchen Hilfe, um am Leben teilnehmen zu können, die gibt es aber nur stationär in einem Heim, zuhause wohnen bleiben dürfen Sie nicht. Stellen Sie sich vor, Sie sind behindert und haben eine knappe Rente, aus Sicht des Amtes sind Sie aber immer noch zu „reich“, um die staatliche Hilfe zu bekommen. Stellen Sie sich vor, Sie sind behindert und leben auf dem Land und sollen in die Stadt ziehen (wo Sie keinen kennen), weil es die spezielle Hilfe für Sie nur in der Stadt gibt. Das sind einige der Missstände bei der heutigen Eingliederungshilfe für Behinderte (§ 53 ff. SGB XII). Sie ist eine der sieben Leistungen der Sozialhilfe und dazu bestimmt, die Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gemeinschaft, an Arbeit und Beschäftigung zu ermöglichen.
Wer wesentlich behindert ist, kann Eingliederungshilfe für Behinderte bekommen. Dazu gehören zur Zeit zum Beispiel das betreute Wohnen und betreute Beschäftigung bis hin zur Arbeit in einer Werkstatt für Behinderte. In seelischer Hinsicht wesentlich behindert sind Menschen mit Psychosen, Suchtkrankheiten, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen, soweit dadurch ihre Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt ist; so steht es in der Eingliederungshilfe-Verordnung. Damit ist die Eingliederungshilfe für Behinderte auch für uns seelisch behinderte Menschen wichtig – und sie steht vor einer großen Reform. Warum? Von drei Seiten her ist die Eingliederungshilfe unter Reformdruck:
Der dreifache Reformbedarf
1. Zunächst gibt es Reformbedarf innerhalb der bestehenden Sozialhilfe. Heute ist die Eingliederungshilfe Teil der Sozialhilfe, man erhält sie nur, wenn man finanziell bedürftig ist, wer etwas mehr hat, kommt schon nicht mehr ins Hilfesystem und geht leer aus. Innerhalb des Systems steigen die Fallzahlen enorm. Bekamen 1991 (also kurz nach der Wiedervereinigung) 324.000 Menschen Eingliederungshilfe, waren es 2011 schon 788.000. Auch die Kosten steigen und zwar überproportional: Waren es 1991 noch 4,1 Mrd, sind es 2011 schon 14,4 Mrd.
Die Fallzahlen haben sich also verdoppelt und die Kosten sogar verdreifacht,
– weil als geeignet erscheinende Maßnahmen heute anspruchsvoller und damit teurer sind als früher,
– weil andere soziale Systeme wie Kranken- und Pflegeversicherung bzgl. Behindertenhilfe verschlankt wurden und dann ersatzweise die Sozialhilfe eintreten muss (Stichwort: Nachrang der Sozialhilfe),
– weil die Sozialhilfe zwar ein Bundesgesetz ist, sie aber als eigene Angelegenheit der Länder (Art. 30, 83 GG) von den Kommunen selber ausgeführt und finanziert wird;
damit sind die Kommunen seit langem überfordert, was man an ihrer rigorosen Sparsamkeit bei der Sozialhilfe merkt.
Speziell in den Werkstätten für Behinderte lässt sich der Trend auch beobachten: 2006 waren dort 219.00 Menschen beschäftigt, 2011 waren es schon 255.000 Personen.
2. Darüber hinaus gibt es Reformbedarf durch hinzukommende Behinderte. 2001 trat das Sozialgesetzbuch IX „Teilhabe und Rehabilitation Behinderter“ in Kraft, bei dem sich die irre Situation ergibt, dass es auf dem Papier eine Menge Leistungen für Behinderte gibt, für diese sich aber die meisten Träger nicht zuständig fühlen und ein Wirrwarr über Zuständigkeiten und Inhalte von Leistungen entsteht, das sogar von Juristen als wenig verständlich empfunden wird. Folge: Wegen des sogenannten Nachrangs der Sozialhilfe gegenüber allen anderen Trägern bleibt am Ende des Kompetenzgerangels nur der Sozialhilfeträger als Ansprechpartner übrig; der wiederum muss nur leisten, wenn der Behinderte finanziell bedürftig ist. Trotzdem war mit dem SGB IX grundsätzlich schon der Gedanke verbunden, dass Behinderung unabhängig von der persönlichen finanziellen Lage einen Anspruch auf Ausgleich durch die Gesellschaft dahingehend auslöst, dass also jeder gleichberechtigt an den Dingen des Lebens wie Arbeit und Gemeinschaft teilnehmen kann. Die 2009 in Kraft getretene UN-Behindertenrechtskonvention (UNBRK) geht auch in diese Richtung und deshalb dürfen nicht länger Teilhabeleistungen abhängig von Armut und Bedürftigkeit sein. Das wird dann so teuer, dass damit die heutige Sozialhilfe der Kommunen über-fordert ist. Der in Hamburg beim Senat zuständige Abteilungsleiter formulierte es so: „Es handelt sich … um ein nachrangiges Fürsorge-Leistungssystem, das eigentlich nie für die Bewältigung eines Hunderttausende von Bundesbürgern betreffenden allgemeinen Lebensrisikos mit zumeist lebenslangen Folgen gedacht und konstruiert war“.
3. Und schließlich gibt es Reformbedarf durch hinzukommende Rechte. Die tolle Formel „Nichts ohne uns über uns“ wird der UN-Behindertenrechtskonvention zugeschrieben. 2009 hat Deutschland die Konvention ins nationale Recht übernommen. Das bedeutet, dass es sich nicht nur um einen internationalen Vertrag handelt, über dessen Einhaltung die ferne UNO bei uns zu achten hätte (mit Blauhelmsoldaten?), wovon wir wahrscheinlich wenig hätten. Mit der Transformation in nationales Recht ist diese Konvention einfaches Bundesrecht geworden. Auf ihre Anspruchs-normen kann sich jeder berufen, weniger in der Form eines unmittelbar geltenden subjektiven und klagbaren Anspruchs, sondern eher so, dass der Staat objektiv verpflichtet ist, Leistungen anzubieten und bereitzuhalten und diese nicht als freiwillige oder Ermessensleistungen aufzufassen, damit beliebig zu machen und seinen Sparmaßnahmen auszuliefern sind. Diese Stärkung unserer Position wird sich auch auf die neue Eingliederungshilfe für Behinderte auswirken. Wichtige Normen der UNBRK sind dafür zum Beispiel:
Artikel 19: Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft: Nach dieser Vorschrift darf kein Behinderter mehr gezwungen sein, in einer bestimmten Wohnform, z.B. im Heim oder im betreuter WG zu wohnen, wenn er das nicht will, sondern die freie Wahl der Wohnform bei gleichzeitigem Angebot der erforderlichen Dienstleistungen ist zu gewährleisten. Niemand darf danach gezwungen werden, an einem anderen Ort leben zu müssen, nur weil dort ein größeres Angebot an Dienstleistungen besteht. Die Leistungen für Behinderte müssen also so gestaltet sein, dass sie auch in der Fläche zur Verfügung stehen. Und: Wer z.B. nach heutiger Auffassung des Heimwohnens bedarf und Einzelwohnen nicht schafft, hat dann trotzdem Anspruch auf Einzelwohnen unter entsprechend aufwendiger ambulanter Assistenz!
Artikel 22: Achtung der Privatsphäre: Das Recht auf die eigene Wohnung besteht auch für Behinderte und unabhängig von der Wahl der Wohnform das Recht auf die Achtung der Privatsphäre auch in Unterbringungsformen wie Heim oder WG. Die Kommunikation (Brief, Telefon, Internet) muss so unabhängig und unüberwacht bleiben wie bei anderen Menschen auch. Aus Artt. 19 und 22 UNBRK folgt auch:
Artikel 23: Achtung der Wohnung und der Familie: Der Behinderte hat wie andere Menschen auch die Möglichkeit zu erhalten, ein Familienleben im Zusammenwohnen zu leben, wenn er das will. Entsprechende Assistenz ist ihm in seiner Wohnung zu leisten.
Artikel 27: Arbeit und Beschäftigung: Danach haben Behinderte – anders als andere Bundesbürger – ein Recht auf Arbeit, insbesondere das Recht, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen auf einem Arbeitsmarkt, der dafür geeignet ist und wo darüber hinaus eine freie Arbeitsplatzwahl gewährt ist. Denkt man das zu Ende, macht der Begriff der Erwerbsunfähigkeit dann keinen Sinn mehr, weil jeder – und sei er noch so behindert – auch für ein äußerst kleines Restarbeitsvermögen Anspruch auf einen solchen Arbeitsplatz erhält, der diesem Restarbeitsvermögen angepasst ist – unabhängig davon, ob es wirtschaftliches Arbeiten ist oder nicht. Da das nicht auf betreute Beschäftigung und Werkstattarbeit für Behinderte beschränkt werden kann und eine Vielzahl an Menschen dann im allgemeinen Arbeitsmarkt be-schäftigt werden müssten, bedarf es dann in erheblichem Maße sogenannter Minderleistungsausgleiche, die den Betrieben für die Beschäftigung von Behinderten gezahlt werden müssen, weil behinderte Arbeitnehmer teilweise weniger produktiv sind als „Normalos“. Bisher konzentriert sich die Behindertenpolitik auf Integration in den ersten Arbeitsmarkt (Halbtags- und Ganztagsarbeit), was aber gerade psychisch Behinderte oft nicht schaffen. Arbeitsinklusion betrifft dann auch Restarbeitsfähigkeit unter drei Stunden.
Indem Behinderung als ein allgemeines Lebensrisiko und nicht als Randgruppen-phänomen aufgefasst wird, ergibt sich also ein umfangreicher Reformbedarf sowohl was die Vergrößerung der Gruppe der Anspruchsberechtigten betrifft als auch die Leistungen inhaltlich und Form und Ort der Leistungserbringung.
Die gemeinsame Antwort von Bund und Ländern:
Das „Bundesteilhabegesetz“ ist in Aussicht genommen…
Die Länder haben wegen dieser drei Reformbedarfe 2012 sogenannte Eckpunkte für eine Reform beschlossen, mit der sie auf den Bund zugehen wollen.
Diese Eckpunkte sind:
1. Verselbstständigung der Eingliederungshilfe, d.h. sie soll aus der Sozialhilfe heraus genommen werden und sie soll (allerdings erst längerfristig) unabhängig von einer individuellen Bedürftigkeitsprüfung allen behinderten Bundesbürgern zur Verfügung stehen; damit werden die Bereiche Wohnen und Leben, die in der Sozialhilfe verbleiben, von der Eingliederungshilfe getrennt,
2. ggf. die Einführung eines Individualanspruchs auf ein Bundesteilhabegeld, aus dem der Einzelne unabhängig von sozialen Leistungsträgern seine Inklusionskosten selber tragen kann (in Rede ist ein Betrag von 660 € monatlich für eine halbe Million Menschen!), d.h. statt der staatlichen Leistungen diese sich selbst besorgt; das wäre eine Fortschreibung des persönlichen Budgets,
3. eine finanzielle Bundesbeteiligung,
d.h. den Bund an den Kosten dieses neuen Systems mindestens mit der Höhe von einem Drittel zu beteiligen,
4. den Vorrang ambulanter vor stationärer Leistung zu realisieren und
5. dies alles mit einem sogenanntem Bundesleistungsgesetz oder Bundes-teilhabegesetz umzusetzen.
Außerdem soll es eine Wahlmöglichkeit für die Teilhabe am Arbeitsleben geben, entweder in die WfB zu gehen oder künftig auch in einer ähnlichen Vertragsform bei anderen bereits bestehenden Trägern in Vertrag zu kommen, die sich dafür aber noch qualifizieren müssen. Das entspricht dem Recht, Wohnort und Arbeitsort dort zu wählen, wo man möchte, die Angebote müssen dort vorhanden sein.
Diese Punkte sind in die Koalitions-vereinbarung („GroKoDeal“) vom 27. November 2013 für die neue Bundes-regierung aufgenommen worden. CDU, CSU und SPD haben die Absicht, die Eingliederungshilfe für Behinderte aus dem Sozialhilferecht zu lösen und ein eigenes Bundesleistungsgesetz in dieser Legislatur-periode in Aussicht genommen und zwar bei finanzieller Unterstützung der Kommunen. Das ist fest vorgenommen.
In der Koalitionsvereinbarung heißt es dazu: „Wir werden deswegen unter Einbeziehung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ein Bundesleistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen erarbeiten“. Jedoch unter Finanzierungsvorbehalt steht die Einführung eines individuellen Bundesteilhabegeldes: „Dabei werden wir die Einführung eines Bundesteilhabegesetzes prüfen“.
Die neue Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles, wird im Jahre 2015 den Gesetzentwurf mit den Betroffenenverbänden erarbeiten und er soll 2016 im Parlament beschlossen werden. Wann dann in 2015 ein konkreter Gesetzentwurf vorliegen wird, steht noch nicht fest. Vermutlich haben in 2015 auch die Wohlfahrtsverbände die Möglichkeit Einfluss zu nehmen und die besonderen Bedürfnisse psychisch Kranker zu formulieren (z.B. Was ist Barrierefreiheit für seelisch Behinderte? Wo braucht es niedrigschwellige Angebote ohne Einkommensabhängigkeit? Für welche Leistungen des SGB IX ist ein zuverlässiger Träger zu benennen?). – Um die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland vollständig umzusetzen, wird es eines langen Atems bedürfen.