In der Sozialtherapeutischen Wohn- und Betreuungseinrichtung Walle, welche 1998 gegründet wurde, werden junge Menschen ab 14 Jahren aufgenommen und können dort maximal bis zum Alter von 26 verbleiben. Es handelt sich hierbei um traumatisierte Kinder und Jugendliche, die psychische und/oder sexualisierte Gewalt erfahren und sich im Laufe ihrer Entwicklung zunehmend zurückgezogen haben. Die Jugendhilfe, die ihnen gewährt wird, erfolgt nach dem Kinder- und Jugendschutzgesetz.
Durch die traumatischen Erfahrungen, die diese Menschen gemacht haben, entspricht ihr Entwicklungsstand oftmals nicht ihrem biologischen Alter.
Die Betreuung durch die Mitarbeiter:innen zielt dementsprechend darauf ab, dass die jungen Menschen dabei begleitet werden, eine persönliche Entwicklung nachzuholen. Um dies zu gewährleisten, wird geschaut, wie die Problemlage der jungen Menschen aussieht und welche Möglichkeiten es gibt, sie zu unterstützen.
Die Entwicklung verläuft schrittweise und verlangt von den Mitarbeiter:innen eine Menge Geduld.
Das Erstellen einer zeitlichen Struktur ist zunächst das primäre Ziel, damit sich die jungen Menschen an einem Rahmen orientieren können. Ein pünktliches Aufstehen am Morgen sowie ein fester Zeitpunkt für die Bettruhe sind elementare Eckpfeiler im Tagesablauf. Grundelemente einer Nacherziehung können z.B. eine Normalisierung im Ernährungsverhalten oder eine Verbesserung der Körperhygiene sein.
Manche Bewohner:innen gehen zur Schule, andere gehen einem Beruf nach. Das Erlangen einer Beschäftigung ist ein Ziel, das verfolgt wird (z.B. über Praktika).
Neben der zeitlichen bietet der Tagesablauf auch eine inhaltliche Struktur, die Sicherheit vermitteln soll. Hier gibt es einerseits für alle Bewohner:innen verbindliche Termine wie z.B. ein Forum, in dem Angelegenheiten des Hauses besprochen werden. Andererseits haben die Bewohner:innen die Möglichkeit, für sich passende Angebote (z.B.: Schwimmen, Kino, Kochen, Nähen etc.) wahrzunehmen oder auch eigenständig gewählte Elemente in der Tagesstruktur zu bestimmen. Beim Verlassen des Grundstücks ist die Erreichbarkeit der Bewohner:innen jedoch Voraussetzung.
Um ein Grundvertrauen zu den jungen Menschen aufzubauen, vergehen in der Regel zwei Jahre. Die Heranwachsenden haben in ihren Elternhäusern oftmals sehr enttäuschende Erfahrungen gemacht. „Traumapädagogik ist eine bindungsorientierte Arbeit“ merkt die Sozialpädagogin Sigrid Wantje, die seit vielen Jahren in der Einrichtung tätig ist, an. Es ist ein langwieriger Prozess, der von den Mitarbeiter:innen gemeinschaftlich getragen wird und in dem den jungen Menschen signalisiert wird: „Wir begleiten dich und stehen dazu. Wir lassen dich nicht stehen. Wir stehen zu unserem Wort.“ So können die Bewohner:innen positive Erfahrungen machen, die sich von früheren erheblich unterscheiden.
Gegenseitiger Respekt zählt zu den grundlegenden Kompetenzen, die in der Betreuungseinrichtung gefördert werden. Im Idealfall können so frühere Erlebnisse, die Grenzverletzungen beinhalteten, aufgearbeitet werden.
Auf diesem Weg bleiben Konflikte innerhalb des Hauses nicht aus. Durch die Bewältigung dieser Konflikte können die jungen Menschen aus Fehlern lernen und daran wachsen.
Normalerweise benötigen die Bewohner:innen eine erhebliche Zeit, um für sich und ihre Bedürfnisse eine Sprache zu finden. Dies kann durch den Aufbau eines zunehmend vertrauensvollen Dialogs mit den Mitarbeiter:innen gelingen.
Zum Reifungsprozess der jungen Menschen gehört auch das Übernehmen von Verantwortung. Dies geschieht u.a. durch verschiedene Pflichten im Tagesablauf, die übernommen werden: Wäschewaschen, Reinigen des Zimmers, Mülldienst etc.
Das effiziente Haushalten mit dem Geld, welches den Bewohner:innnen über die Hilfe zum Lebensunterhalt zur Verfügung steht, stellt einen weiteren Bereich dar, in dem verantwortliches Handeln angestrebt wird. Im weiteren Verlauf der Betreuung zählt hierzu auch der Umgang mit einem eigenen Girokonto.
So kann einer eventuellen Verschuldung vorgebeugt werden.
Ein wichtiges Ziel wäre erreicht, wenn den jungen Menschen nach dem Aufenthalt in der Betreuungseinrichtung der Übergang in ein selbständiges Leben gelänge. Dementsprechend wären sie nicht mehr auf Jugendhilfe angewiesen. Häufig passiert es jedoch, dass die jungen Menschen in eine eigene Wohnung ziehen und weiterhin ambulant betreut werden. Die Wege, die sich ergeben, können also sehr unterschiedlich sein. Der Übergang ins Erwachsenenleben ist für die jungen Menschen ein großer Schritt, der nicht immer einfach ist. Aber auch dieser Weg wird von den Mitarbeiter:innen der Hans-Wendt-Stiftung begleitet.
Den Mitarbeiter:innen der Wohn- und Betreuungseinrichtung in Walle wird in ihrer Tätigkeit eine Menge Geduld und Empathie abverlangt. Man müsse schon „für diese Arbeit ein Rüstzeug mit einer permanenten Krisenbereitschaft mitbringen“, so Sigrid Wantje. Um die bestmögliche Betreuung der Bewohner:innen zu gewährleisten, beträgt die wöchentliche Arbeitszeit der Mitarbeiter:innen nicht mehr als 30 Stunden. So sind diese in der Lage, die mentale Herausforderung in ihrer Freizeit zu verarbeiten und für ihre Tätigkeit Kraft zu tanken. In der Bewältigung der täglichen Arbeit kann auch das Mitarbeiter:innen-Team für jedes Mitglied einen Schutzraum bieten, in dem dieses aufgefangen werden kann.
Im Team arbeiten zu einem Großteil ausgebildete Sozialpädagog:innen. Diese werden in der täglichen Arbeit von einer Hauswirtschafterin unterstützt. Eine vor Ort tätige Psychologin steht den Bewohner:innen für Diagnostik, Stabilisierung und Krisenbewältigung zur Verfügung – ein sehr wichtiger Baustein im Gefüge.
Obwohl ihre Tätigkeit große Anforderungen mit sich bringt, stellt sich Sigrid Wantje diesen sehr gerne: „Keine Arbeit ist so vielfältig und abwechslungsreich wie die, die ich hier mache. Das hält mich fit, das macht Spaß… und man bekommt letztendlich auch eine ganze Menge zurück.“
Das, was man jungen Menschen gesellschaftlich mit auf den Weg geben kann, empfindet Sigrid Wantje als extrem relevant für die Gesellschaft. Sie ist jedoch davon überzeugt, dass die Hilfe, die jungen Menschen in einer Notlage zuteil wird, an einer Stelle einsetzen müsste, die niedrigschwelliger sein sollte, als es bisher der Fall ist.
Das essentielle Wissen, dass sich die Mitarbeiter:innen der Hans-Wendt-Stiftung über viele Jahre in der Arbeit mit jungen Menschen angeeignet haben, könne in verschiedenen relevanten Institutionen wirksam werden, um junge Menschen frühzeitig aufzufangen – nicht erst dann, wenn die Schäden, die sie aufgrund ihrer Sozialisierung möglicherweise erleiden, so massiv sind, dass sie immer größere Unterstützung benötigen. Die Vernetzung innerhalb der verschiedenen Institutionen, die mit der Entwicklung eines jungen Menschen befasst sind, sei stark verbesserungswürdig, betont Sigrid Wantje. Eine zentrale Bedeutung käme hierbei den Schulen zu. Eine Schulung der dort tätigen Personen wäre ein wichtiger Ansatz, um den jungen Menschen in ihren individuellen Empfindungen angemessen zu begegnen. Es wäre ein großer Fortschritt, von dem alle Beteiligten profitieren würden. Dies beträfe auch die Gesellschaft.
Sigrid Wantje hat die Beobachtung gemacht, dass sich die Qualität der Gewalt bei jungen Menschen in den letzten Jahrzehnten verändert hat – es geht brutaler zur Sache. Dementsprechend würde bei einer günstigeren Entwicklung von jungen Menschen auch der Anteil derer sinken, die straffällig würden. Dies sei im Übrigen im Sinne des indirekten politischen Auftrags – die Vermeidung von Folgekosten – mit dem die Arbeit der Hans-Wendt-Stiftung einst startete.
Die familiären Rahmenbedingungen haben sich im Gegensatz zu früher stark verändert. Eine Familie lebt heute oftmals unter anderen Voraussetzungen. Die Betreuung von Heranwachsenden ist nicht mehr ohne weiteres garantiert, da oftmals beide Elternteile arbeiten.
Dementsprechend sind die gesellschaftlichen Anforderungen an die Begleitung junger Menschen gestiegen. Das soziale Netz müsste engmaschiger gestrickt sein. Ein massives Problem, vor dem der gesamte Soziale Bereich seit langer Zeit steht, ist die Finanzierung. Als Leiterin der Einrichtung betont Valerie Kottmann, dass das zur Verfügung stehende Budget in fast allen Bereichen sehr knapp bemessen sei. Bei der Planung des Budgets müssten dann immer wieder schwierige Entscheidungen getroffen werden, wofür dieses verwendet wird und wofür nicht.
Neben den Schwierigkeiten bei der Budgetierung gibt es noch ein weiteres großes Problem, mit dem sich die Hans-Wendt-Stiftung zurzeit konfrontiert sieht: Der Fachkräftemangel, mit dem der Soziale Bereich seit Jahren zu kämpfen hat, wird sich in absehbarer Zeit unmittelbar auf die Wohn- und Betreuungseinrichtungen der Hans-Wendt-Stiftung auswirken, da einige Kräfte in Rente gehen.
Die Ursachen für den Fachkräftemangel lägen laut Valerie Kottmann einerseits in der Tatsache begründet, dass die anspruchsvolle Tätigkeit von Sozialarbeiter:innen nicht angemessen bezahlt würde. Die nicht ganz einfachen Arbeitsbedingungen (beispielsweise Schichtdienst) trügen zudem dazu bei, dass es dieser Beruf in einer sich wandelnden Gesellschaft schwer hat, Personal zu rekrutieren.
Sigrid Wantje ist es ein generelles Anliegen, dass ein politisches Umdenken entsteht. Eine generelle Wahrnehmung und Wertschätzung Sozialer Arbeit sollte wieder verstärkt ins Bewusstsein der politisch Agierenden gelangen. Um weitreichende Veränderungen zu realisieren, sei demnach eine langfristige Planung über 15 Jahre sinnvoll. Letztendlich sei es zudem unabdingbar, dass mehr Geld in den sozialen Bereich investiert werden muss, um die notwendige Versorgung zu gewährleisten.
Die Arbeit mit jungen Menschen, welche Unterstützung bedürfen, ist eine herausfordernde und wertvolle Aufgabe, denen sich die Mitarbeiter:innen der Hans-Wendt-Stiftung offenbar mit Leidenschaft und Geduld stellen – da ihnen diese jungen Menschen am Herzen liegen.
Valerie Kottmann und Sigrid Wantje weisen deutlich darauf hin, dass eine gemeinsame Kraftanstrengung jedoch auf verschiedenen Ebenen gefragt sei, um dem gesellschaftlichen Wandel adäquat zu begegnen und den jungen Menschen die Unterstützung zukommen zu lassen, die diese für ihre Entwicklung dringend benötigen.
Wie sagte Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard Im Zuge der voranschreitenden Psychiatriereform in Bremen zuletzt: „Die Menschen haben das wirklich verdient, weil sie sonst nicht in der Mitte der Gesellschaft sind.“