Autor:in: Christian Winterstein

Begegnung im Treppenhaus

 

Soll ich es ihm sagen? … „Markus, hast du mal eine Minute? Ich muss dir etwas sagen.“ Sie steht am Treppenaufgang und schaut nach oben, wo er gerade seine Wohnungstür schließt.
„Das passt jetzt gerade nicht.“ – Und überhaupt, wieso musst du mir etwas sagen?
„Nur eine Minute, bitte.“
„Na gut, eine Minute.“ – gebe ich dir, um mir zu sagen, dass ich im Trockenraum meine Unterwäsche nicht über deine Waschmaschine hängen soll.
„Markus, ich habe Krebs. Übermorgen ist die OP. Ich habe es allen im Haus gesagt. Die Prognose ist schlecht.“
„Das tut mir leid.“ – Aber was geht es mich an? Jahrelang gehst du wort- und grußlos an mir vorbei, und zufällig begegnen wir uns im Treppenhaus, und dann erzählst du mir so etwas.
Sie geht die Treppe hoch. „Markus, wenn Henrike vor deiner Tür steht, weise sie bitte nicht ab.“
Konsterniert zieht er die FFP-Maske über das Gesicht. „Ich habe deine Tochter nie abgewiesen.“
„Ich weiß.“
„Du weißt, dass Henrike und ich immer gute Ideen hatten, etwas zu unternehmen. Aber du wolltest es nicht.“
„Ich weiß.“

Beide schauen sich an:
Als ich mehr wollte, als du wolltest, – du mehr wolltest, als ich wollte, – und ich nicht aufhörte, mehr zu wollen, als du wolltest, – und du nicht aufhörtest, mehr zu wollen, als ich wollte, – wurde aus unserer Sympathie füreinander gegenseitige Antipathie. Henrike stand dazwischen.

„Kommt sie denn zurecht, wenn du im Krankenhaus bist?“
„Ja, ja.“ Sie lächelt. „Ich glaube, sie ist auch ein bisschen froh, wenn ich mal nicht zu Hause bin. Ich habe ihr noch nicht gesagt, dass die Prognose schlecht ist.“
„Ich drücke dir die Daumen.“
„Ja.“ Sie nickt und geht an ihm vorbei.
„Alles Gute für dich.“
„Ich werde es tapfer durchstehen.“
Und mit einem kindlich-lächelnden Gesichtsausdruck schaut sie noch mal vom oberen Treppenabsatz zu ihm zurück.