Das wahrhaftig Brutale an der Psychose ist nicht die Psychose selber. Denn diese kann sich von freundlichem oder unfreundlichem Gesicht zeigen, kann destruktiv, aber auch produktiv wirken. Die Tatsache, dass sie sich in unseren Breiten meist destruktiv zeigt, liegt nicht an der Psychose selber. Sondern am Unverständnis.
Ein Traum ist weder gut noch böse oder schlecht; auch ein Albtraum nicht. Es ist unvermeidbar, dass der Mensch in den Tiefen seiner Psyche nicht nur Käsekuchen und Sonnenschein sammelt. Und die Verarbeitung von Inhalten kann schmerzhaft sein, ist aber bitter notwendig. Eine Psychose ist ein solcher Verarbeitungsprozess. Genau wie ein Traum gebiert sich die Psyche und versucht Inhalte zu verarbeiten, die im gewöhnlichen Bewusstsein des Menschen keinen Platz haben. Grenzen werden eingerissen zwischen Bewusstsein und persönlichem Unbewussten, persönlichem Unbewussten und kollektivem Unbewussten.
Dadurch kann Großartiges erwachsen. Psychotiker nehmen, neutral formuliert, Dinge wahr, die Menschen ohne diese Besonderheit nicht wahrnehmen können. Eine Halluzination ist letztlich auch real, schließlich feuern echte Neuronen im Gehirn. Nur weil man etwas nicht versteht, heißt das nicht, dass es nicht real sei.
Die Reaktion der Medizin ist genauso verständlich wie fehlgeleitet. Denn bei einem Phänomen, das so alt ist wie die Menschheit selber, von einem Hirndefekt auszugehen, der mit invasiver Medikation geheilt oder zumindest unterdrückt werden müsse, führt so sehr zum Beenden der Psychose wie die Alkoholprohibition zur Beendigung des Alkoholkonsums führte. Wirkliche Hilfe kann es nur durch Verstehen des Menschen selber geben. Die Psychose gehört zum Psychotiker wie ein hoher IQ zu einem intelligenten Menschen oder gut funktionierende Muskelmasse zum Profisportler. Es ist ein elementarer Bestandteil seines Seins; diesen Teil unterdrücken zu wollen ist gleichbedeutend damit, den Menschen selber abzulehnen. Echte Hilfe für den Psychotiker bedeutet: Helfen zu verstehen, was die Inhalte bedeuten. Warum treten sie auf? Was bedeuten sie? Wohin führen sie mich? Worauf versucht meine Psyche mich aufmerksam zu machen?
Natürlich ist das letztlich ein eher schwammiges Feld ähnlich der Traumdeutung. Das macht aber nichts. Letztlich gibt es nämlich keine „eine“ Antwort, keine „eine“ Deutung. Bereits ein produktives Beschäftigen mit den Inhalten anstelle von der Verdrängung zu setzen bedeutet eine Arbeit mit der Psyche zu erlernen, die die Chancen beträchtlich erhöht, dem Psychotiker ein lebenswertes Leben zu ermöglichen. Alleine dadurch, dass der Psychotiker lernt, seine Gedanken und Gefühle ernst zu nehmen, zu analysieren und zu erspüren, wird ihm ein wichtiges Mittel im Kampf mit sich selber gegeben.
Auch das ist ein typisches Problem heutiger Medizin: Es braucht klare Antworten. Diagnose XY führt zur Medikamentengabe YZ. So mit der Psyche des Menschen umzugehen ist wie zu versuchen einen Nagel mit einer Abrisskugel in die Wand einzuschlagen. Die Psyche ist viel zu komplex und empfindlich für ein solches Vorgehen und muss mit den Mitteln der Psyche behandelt werden, nicht mit den Mitteln der Biologie (außer möglicherweise als kurzfristige Notlösung).
Das ist harte Arbeit, die viel Zeit in Anspruch nimmt, geschultes Fachpersonal erfordert und nicht selten auch eine Ehrlichkeit sich selbst gegenüber erfordert, die schnell ans Schmerzhafte geht. Doch der Lohn dieser Arbeit heißt echte Heilung. Keine garantierte, versteht sich. Und auch ist das Wort „Heilung“ möglicherweise irreführend: Denn niemand wird von sich selber geheilt. Die Fähigkeit zur Psychose ist eben das: Eine Fähigkeit. Nicht mehr, nicht weniger. Was ich mit „Heilung“ meine ist: Die Sensibilität nicht zu verlieren, die aus der Psychose erwächst, ohne aber ständig zu crashen. Ein gesundes Leben führen zu können ohne sich selbst zu verleugnen. Letztlich stimmt: Psychotiker können vieles nicht. Mehr Sensibilität bedeutet achtsamer leben zu müssen. Weniger Stress abzukönnen. Schneller der Verzweiflung anheimzufallen. Mehr Ruhe zu brauchen.
Aber eben auch: Mehr wahrnehmen zu können. Mehr verstehen zu können. Andere besser zu sehen. Als die Aufgabe von der Psychiatrie im Bezug auf Psychosen sehe ich, Psychotikern zu zeigen, wie sie leben können, so dass sie ihr Potential verwirklichen, ohne im Strudel der eigenen Verletzlichkeit zu ertrinken.
Die harte Arbeit muss auf beiden Seiten stattfinden damit die Psychose nicht mehr als Krankheit und Problem, sondern als Potential gesehen werden kann. Denn bei einem bin ich mir ganz sicher: Psychotiker haben der Gesellschaft extrem viel zu bieten. Man muss sie nur lassen.