Autor:in: Manschke, Lean

Ein Leben mit Autismus

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Teaser:
In dieser Geschichte geht es um einen beispielhaften Tag im Leben einer autistischen Person. Elvin ist nicht-binär, weil Geschlechtsdivergenz und Autismus häufig miteinander einhergehen. Elvin benutzt das Neopronomen „el“, das dekliniert dann „els“ ist. Vielleicht ist es euch eine Hilfe, euch vorzustellen, dass ich Elvin entweder mit dem ganzen Namen oder mit dem Spitznamen El anrede.
Elvin ist 19, geht noch zur Schule und wohnt bei els Eltern.

Warnungen:
• Schwierigkeiten mit sozialen Interaktionen; Unverständnis und Ablehnung von anderen
• Überstimulation, Stress, Meltdown (psychischer Ausnahmezustand)
• Überschreitung von Grenzen
• zwei ableistische Sachen über Autismus, denen widersprochen wird

Triggerwarnung: Beschreibung eines Meltdowns ganz am Ende, inklusive leichtem, unfreiwilligem selbstverletzenden Verhalten.


Vorwort
Es ist wichtig, zu wissen, dass diese Geschichte nur ein Beispiel von Millionen ist. Sie gibt nur einen winzigen Einblick in ein riesiges Thema, denn die Vielfalt bei Autismus ist wahnsinnig groß. Auch, wenn einige Sachen generalisiert formuliert sind, gibt es mit Sicherheit auch da Ausnahmen, die die Regel bestätigen.
Alle genannten Verhaltensweisen sind menschliche Verhaltensweisen, die vermutlich fast jede:r in der einen oder anderen Form kennt. Ob man tatsächlich neurodivergent ist, erkennt man dann u.a. daran, wie viele der dafür typischen Verhaltensweisen man zeigt, wie häufig diese auftreten und wie sehr sie einen einschränken oder behindern.
Jede Person sieht die Welt auf ihre eigene Art und Weise, und wenn einige sagen „dieses Verhalten zeige ich, weil ich autistisch bin“, kann das durchaus sein. Es heißt aber nicht automatisch, dass es ein generelles Kriterium für Autismus ist und auch nicht, dass alle autistischen Menschen oder nur autistische Menschen das tun.

Disclaimer: Ich bin kein Experte, ich habe weder Psychologie noch Medizin studiert. Alles, was ich geschrieben habe, habe ich aus Literatur, Erfahrungsberichten und meiner eigenen Wahrnehmung. Diese Geschichte sollte deshalb nicht als diagnostisches Material oder als Generalisierung für alle gesehen werden.

Begriffserklärung

Neurodivergenz: Neurodivergenz umfasst Gehirne, die anders funktionieren als die der meisten anderen, der „neurotypischen“ Menschen. Zu Neurodivergenz zählen ADHS und Autismus, aber auch das Tourette-Syndrom, Legasthenie, Synästhesie und vieles mehr.
Nicht-binär: Wenn eine Person weder männlich noch weiblich ist.
Neo-Pronomen: Wortneuschöpfungen, um sich auf nicht-binäre Personen beziehen zu können, die weder „er“ noch „sie“ für sich benutzen möchten.
Ableistisch: “Ableismus bezeichnet eine Form der Diskriminierung, bei der behinderte Menschen Vorurteilen, Benachteiligungen und/oder Vorbehalten ausgesetzt sind” [Quelle: Wikipedia]
Allistisch: nicht autistisch



Ein Leben mit Autismus

Elvin wird vom Wecker aus dem Schlaf gerissen. Müde reibt el sich die Augen, schaltet den Wecker aus und nimmt sich els Handy. Fünf Minuten lang scrollt Elvin durch Instagram, dann steht el auf, schnappt sich els Klamotten und geht ins Bad. Zehn Minuten duschen, dann anziehen, dann nach unten in die Küche gehen.
„Guten Morgen, mein Schatz“, sagt els Mutter und reicht el els Müslischüssel. Elvin benutzt immer dieselbe Schüssel mit demselben Löffel. Das ist el wichtig, weil alle anderen Löffel sich einfach nur schrecklich anfühlen und diese Schüssel die perfekte Größe für els alltägliches Müsli hat. El nimmt sich die Cornflakes, dann das Schokomüsli, dann die Milch.
Nach dem Frühstück geht el nach oben, putzt Zähne, und dann macht el sich auf den Weg zur Schule. El geht immer denselben Weg. Routinen und Gleichheit beruhigen el, geben el ein kleines bisschen Sicherheit in dieser chaotischen Welt. Elvin ist autistisch.
Dass der Zug heute 15 Minuten Verspätung hat und El deshalb vermutlich zu spät zur Schule kommen wird, stresst El schon sehr. Elvin spürt, wie els Hände automatisch anfangen zu wedeln, doch dann bemerkt El den komischen Blick der Person neben El und zwingt sich, wieder aufzuhören. El spürt, wie der Stress innerlich steigt. El beschließt, ganz ans Ende des Bahnsteigs zu gehen, wo hoffentlich weniger Menschen sind. El stellt sich hinter eine Säule und lässt els Händen dann freien Lauf. El spürt, wie der innere Druck ein bisschen nachlässt.
Elvins Kopf spielt schon automatisch durch, wie die Situation gleich sein wird, wenn El zu spät in die Klasse kommt. El überlegt sich, was El sagen wird, wie der Lehrer darauf reagieren könnte, spielt alle möglichen Konversationen durch. Was Elvin da tut, nennt sich Skripting: eine Konversation auswendig lernen, bevor sie passiert. Das nimmt den Druck und das Unbekannte aus der Situation, zumindest so weit wie möglich. Elvin hat oft das Problem, dass die Leute von els Skript abweichen, und dann fällt es El sehr schwer, sich schnell eine passende Erwiderung auszudenken.
Elvin denkt eigentlich immer genau nach. Wenn El eine Frage gestellt wird, auf die el nicht sofort eine Antwort weiß, denkt el so lange darüber nach, bis el eine hat. Andere Menschen deuten els Schweigen oft falsch, denken, dass el es nicht weiß oder nicht antworten möchte, und stellen dann schon die nächste Frage. Das verwirrt El dann immer sehr. El weiß nicht, auf welche Frage el jetzt antworten soll; eigentlich wollte el ja auch auf die erste Frage antworten, doch jetzt steht schon die nächste im Raum.
Auch Entscheidungen trifft Elvin nie aus dem Bauch heraus. El überlegt sich, welche Entscheidung am sinnvollsten ist, und entscheidet sich dann dafür. Auch das dauert oft länger als bei anderen Menschen, die ihre Entscheidungen nach Gefühl treffen.

Als Elvin endlich vor der Klassentür steht, ist el eine ganze halbe Stunde zu spät. El klopft an und tritt ein. Der Lehrer sieht El über seine Brille hinweg an. „Elvin!“, sagt er, bevor Elvin den Mund aufmachen kann. „Wie schön, dass Sie uns auch mit Ihrer Anwesenheit beehren. Warum sind Sie so spät?“
Elvin hat geskriptet, also sagt el: „Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Der Zug hatte 15 Minuten Verspätung und als ich aus dem Bahnhof kam, ist mir der Bus vor der Nase weggefahren. Der Bus danach ist ausgefallen, deshalb bin ich zur Schule gelaufen und-“
„Okay“, unterbricht der Lehrer Elvin. „Ich möchte Ihre Ausreden eigentlich gar nicht hören. Sie haben den Unterricht schon genug gestört. Setzen Sie sich.“
Irritiert hält Elvin inne. „Aber… Sie haben doch gefra-“
„Ich möchte keine Widerworte mehr hören. Setzen Sie sich.“
Eine Weile steht Elvin da wie erstarrt, dann geht el zu els Platz. Elvin versteht nicht, was das soll. Warum fragt er, wenn er an der Antwort anscheinend überhaupt nicht interessiert ist? Und warum sollen das Ausreden sein? Es ist einfach nur eine Aufzählung der Umstände, die eben passiert sind. Frustriert stößt Elvin die Luft aus. Es ist nicht das erste Mal, dass el diese Situationen erlebt, aber das macht es für el nicht besser.
El wurde auch schon öfter als arrogant oder überheblich bezeichnet, weil el ehrlich auf Fragen geantwortet hat. Elvin versteht das einfach nicht.

In der Pause muss Elvin damit klarkommen, dass alle in der Klasse durcheinanderreden. Die Lautstärke ist anstrengend, aber die anderen nehmen Elvin eh schon als komisch wahr. Heute scheint kein guter Tag zu sein, deshalb erlaubt el sich, die Kopfhörer aufzusetzen und Musik zu hören. Dabei beobachtet el els Klassenkamerad:innen. Letzte Woche war ein neuer Schüler dazugekommen, und el beobachtete, wie dieser sich zu einer Gruppe Jungs stellte und sich an deren Gespräch beteiligte. Elvin fragte sich, wie andere Menschen das machten. Es fiel el immer so schwer, Zugang zu anderen Menschen zu finden. Es war el auch schon oft passiert, dass andere etwas ironisch oder sarkastisch gesagt hatten, was el nur selten – nämlich nur, wenn sich aus dem Kontext erschließt, dass es nicht ernst gemeint sein kann – wahrnehmen kann und deshalb ernsthaft darauf eingegangen war. Was die anderen natürlich sehr amüsant fanden. Und wieder einmal war Elvin unfreiwillig Grund von Gelächter gewesen, und el wusste nicht mal, warum. Aber Elvin ist sowieso lieber allein.
Um mit allistischen Menschen zu interagieren, ohne dass sie einen komisch finden, bedarf es einer Menge nonverbaler Kommunikation. Da sind die Gesichtsausdrücke, die Körpersprache, der Ton, in dem etwas gesagt wird. All diese Dinge sind nicht intuitiv für Elvin. el versteht die meistens Gesichtsausdrücke mittlerweile, weil el gelernt hat, wie sie sich zusammensetzen. Ein Lächeln z.B. geht mit gehobenen Mundwinkeln einher und leicht zusammengekniffenen Augen. Wenn jemand die Stirn runzelt, kann es bedeuten, dass die Person verärgert ist, oder nachdenklich, oder verwirrt. Es ist viel Arbeit, die Gesichtsausdrücke richtig zu deuten.
Es ist aber nicht nur das. Elvins eigenes Gesicht zeigt eigentlich nichts von els Gefühlen, es sei denn, el verzieht es bewusst, um auszudrücken, was el ausdrücken möchte. El stand oft vor dem Spiegel und hat Gesichtsausdrücke geübt. In Konversationen muss el sich auf els Gedächtnis verlassen, um diese richtig hinzukriegen.
Mirroring hilft manchmal. Mirroring ist, wenn jemand die Gesichtsausdrücke annimmt, die das Gegenüber macht, oder auch Intonation und Körpersprache spiegelt. Das kann durchaus zu sozialen Schwierigkeiten führen, z.B. wenn Elvin unbewusst Akzente oder Dialekte des Gegenübers in els eigenes Sprachmuster übernimmt.

Als die Schule am Nachmittag endlich vorbei ist, ist Elvin schon ziemlich erschöpft. El macht sich auf den Weg zum Bahnhof. Der Himmel ist dicht von Wolken bedeckt; das ist zu grell, der Himmel blendet el und schmerzt in els Augen. El kramt die Sonnenbrille aus dem Rucksack und setzt sie auf. Besser. El wird zwar komisch angestarrt, aber el hat keine Kraft mehr, sich darum zu scheren.
Am Bahnhof ist es noch voller als sonst, weil offenbar mehrere Züge ausgefallen sind. Hinter el fängt plötzlich ein Kind an zu kreischen. El zuckt heftig zusammen und setzt sich dann hastig wieder els Kopfhörer auf. Das Kind kann el leider immer noch hören, deshalb geht el schnellen Schrittes in Richtung Bahnsteig. Die Gerüche aus den einzelnen Bäckereien im Bahnhof sind zu stark, Elvin wird körperlich übel. Zudem wird el ein paar Mal angerempelt. Nicht heftig, aber el spürt es. Zum Glück schützt die Winterjacke el vor direktem Hautkontakt, darüber ist el sehr dankbar.
Im Zug ist es sehr voll, Gott sei Dank findet Elvin einen Sitzplatz. Leider sitzt irgendwo in els Umgebung jedoch eine Person, die Parfum benutzt hat. Es beißt in els Nase. El hält sich unauffällig els Finger darunter und atmet nur noch flach. Die Deckenlampen sind zu grell, sie sind schmerzhaft. Die Kapuze von els Pullover drückt auf els Rücken. Irgendwo rufen Schulkinder durcheinander. Es ist zu viel.
Autismus ist vor allem auch eine Reizfilterstörung. Das Gehirn kann nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Reizen unterscheiden und lässt alles durch, weshalb man ständig alle Reize aus der Umgebung verarbeiten muss, was sehr viel Energie kostet. Es ist aber gleichzeitig auch der Grund, warum autistische Menschen meist überdurchschnittlich gut darin sind, Details wahrzunehmen, die die meisten neurotypischen Menschen überhaupt nicht bemerken.
Nicht alle Reize werden jedoch als zu stark wahrgenommen. Viele autistische Menschen haben Alexithymie, wodurch sie Reize ihres eigenen Körpers, wie z.B. Hunger, Durst oder Harndrang, nur schwach bis gar nicht wahrnehmen. Auch das Erkennen und Benennen von den eigenen Gefühlen ist dann oft stark erschwert.
Der Zug fährt los und El spürt die Vibration in den Fußsohlen. Unangenehm. Unerträglich. El stellt die Füße auf die Außensohlen, wodurch die Vibrationen nur noch gedämpft zu spüren sind. Auch Schritte im Gang neben el kann el häufig durch die Fußsohlen wahrnehmen, insbesondere, wenn el überstimuliert ist und alle Reize noch stärker wahrnimmt als sonst, so wie jetzt. Das fühlt sich dann so an, als würden els Nerven blank liegen, wodurch jeder Reiz einen Schmerzimpuls auslöst.
Elvin spürt, wie els Oberkörper vor- und zurückschaukelt. El stoppt die Bewegung. Der Zug ist zu voll, zu viele Menschen können das sehen. Stattdessen versucht el, die Bewegung in ein Kopfnicken umzuwandeln. El hat Kopfhörer auf. Damit ist das sozial akzeptabel.

Auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause steigt Elvin plötzlich Zigarettenrauch in die Nase. El hasst diesen Geruch. El sieht sich um, doch im Umkreis von 20 Metern ist kein einziger Mensch zu sehen. El seufzt.
Zu Hause angekommen, nimmt el die Kopfhörer ab, geht in die Küche und winkt els Mutter zu. Sie lächelt el an und sagt: „Hi, Schatz! Wie war die Schule?“
Elvin zuckt die Schultern. Welcher Teil? El findet es schwierig, einen ganzen Tag in einer kurzen Antwort zusammenzufassen und el weiß nicht, ob els Mutter etwas Bestimmtes wissen möchte. Deshalb hat el keine Ahnung, was el antworten soll. El ist aber zu erschöpft, um nachzufragen. Wenn es el schlecht geht, insbesondere, wenn el stark überstimuliert ist, findet el Sprechen fast unmöglich. Das nennt sich verbaler Shutdown. Elvin kann dann noch reden, wenn el sich wirklich dazu zwingt, aber die Worte kommen nur sehr langsam und schleppend über els Zunge und jedes davon ist ein richtiger Kampf. Es zieht wahnsinnig viel Energie und wenn el das zu lange macht, landet el in einem Meltdown, einem kompletten Zusammenbruch. Deshalb vermeidet el in diesen Fällen soweit es geht verbale Kommunikation und weicht viel auf nonverbale aus.
Els Mutter akzeptiert das Schulterzucken zum Glück als Antwort. „Okay. Denkst du daran, dass nachher deine Tante zum Essen vorbeikommt?“
El seufzt, nickt dann aber. El deutet mit dem Finger in Richtung els Zimmers. Els Mutter nickt. „Ja, geh ruhig. Hannelore kommt um 18:30 Uhr.“
Elvin ist dankbar für die Information, denn jetzt weiß el, worauf el sich einstellen kann. El nickt erneut und geht dann auf els Zimmer.
Bei Überstimulation hilft el nicht viel außer Ruhe. Mit der Zeit hat el aber auch einige andere Sachen entdeckt, die el in solchen Situationen zumindest ab und zu helfen. El lässt das Deckenlicht aus, setzt die Sonnenbrille ab, nimmt sich els Gewichtsdecke und schaltet dann die Lavalampe in der Ecke an. El legt sich auf den Boden und die Gewichtsdecke, die ein Gewicht von ca. 6kg hat, als Knäuel auf els Brust. El spürt fast sofort, wie etwas in el sich entspannt. El schnappt sich els Kuscheltier, das eine sehr weiche Oberfläche hat und sich großartig anfühlt, wenn el mit den Fingern darüberstreicht. Mit der anderen Hand schnipst el mit den Fingern. Elvin dreht den Kopf und sieht der Lavalampe zu, wie sich langsam Blasen bilden, aufsteigen, absinken, sich vielleicht in der Mitte treffen und umeinander herum wabbeln.
All diese Sachen beruhigen el. All diese Sachen sind Stimming.
Stimming ist eine Abkürzung des englischen Begriffs self-stimulating behaviour. Er beschreibt Regulationsmethoden, die alle Menschen zeigen, die aber besonders häufig von autistischen Menschen ausgeführt werden, da sie sich damit selbst regulieren. Stimming ist vor allem als sich wiederholende körperliche Bewegungen bekannt, wie das Vor- und Zurückschaukeln mit dem Oberkörper oder das Händewedeln, die oft in den Medien gezeigt werden. Es können aber auch sich wiederholende Geräusche sein, die eine Person macht, oder taktiles Stimming durch das Streichen über angenehme Oberflächen, oder visuelles Stimming durch das Beobachten von angenehmen visuellen Reizen. Auch Riechen kann Stimming sein, das macht el aber nicht, weil die meisten Gerüche sehr unangenehm für el sind.
Stimming kann aber auch ganz unauffällig im Alltag auftreten: Haarsträhnen zwirbeln, an der Unterlippe herumkauen, tanzen oder singen – all das kann Stimming sein.
Die Gewichtsdecke ist kein Stimming, aber ein größerer Druck auf els Körper hilft ebenfalls bei der Regulation. El weiß nicht genau, warum. Gewichtsdecken üben Druck auf den Körper aus, und dadurch wird, wenn el das richtig verstanden hat, Oxytozin ausgeschüttet, ein Hormon, das auch beim Kuscheln mit anderen entsteht. El hasst es aber, von anderen Menschen berührt zu werden. Vielleicht holt sich el also mit der Gewichtsdecke das Oxytozin? El weiß es nicht, aber el weiß, dass es hilft, und das ist das Wichtigste.
Was Elvin auch oft beruhigt oder sogar glücklich macht, ist die Beschäftigung mit els Spezialinteresse. So lange el denken kann, interessiert el sich für Pilze. Sie faszinieren el einfach. Schon als Kind hat el es geliebt, auf Pilzsuche zu gehen, sie sich genau anzugucken, sie zu malen, sie zu sammeln. El isst sie nicht, weil die Konsistenz von ihnen zu merkwürdig ist, aber el weiß unglaubliche Mengen über sie. El hat schon als Kind Bücher über Pilze verschlungen, hat Informationen raus geschrieben, sie sortiert und kategorisiert. Und auch heute noch liebt el es, sich Fakten über verschiedene Pilze durchzulesen. Es sind einfach wahnsinnig faszinierende Lebewesen.
Doch heute bleibt el mit der Gewichtsdecke auf der Brust auf dem Boden liegen und sieht der Lavalampe zu.
Um 18:29 Uhr geht el nach unten. Der Tisch ist bereits gedeckt; auf els Platz steht els Teller, alles, wie es sein soll. Hannelore taucht allerdings erst um 18:47 auf, was el schon wieder sehr frustriert. El braucht Abmachungen, um zu wissen, worauf sich el einstellen kann. Wenn diese Abmachungen nicht eingehalten werden, stresst es el.
Als Hannelore dann kommt, begrüßt sie els Eltern mit einer Umarmung. Auch Elvin würde sie am liebsten umarmen, doch el weicht sofort einen Schritt zurück. Hannelore seufzt, hebt die Hand und streicht über els Wange. El hasst Berührungen, ganz besonders sanfte. Sanfte Berührungen sind schmerzhaft. El legt sich die Hand auf die Wange und würde sie am liebsten abschmirgeln, um das Gefühl der Hand auf der Wange loszuwerden. El dreht sich um und setzt sich an els Platz, wo el möglichst unauffällig mit dem Oberkörper vor- und zurückschaukelt. El weiß, dass el am Essen teilnehmen muss, sonst würde el sofort wieder auf els Zimmer gehen.
Als alle um den Tisch herumsitzen, wird das Essen verteilt. Hannelore tut Elvin Salat auf den Teller, bevor el sich dagegen wehren kann. El schiebt ihn sofort zur Seite. Salatblätter sind vom Geschmack her gar nicht so schlimm, aber sie fühlen sich so merkwürdig in els Mund an, dass el sie nicht essen kann. Auch mit gekochtem Gemüse tut el sich schwer.
El schiebt das Schnitzel von den Kartoffeln und vom Ketchup weg. El mag es nicht, wenn sich unterschiedliches Essen auf dem Teller berührt. Dann beginnt el, reihum zu essen: eine Gabel Kartoffeln, eine Gabel Schnitzel, eine Gabel Ketchup. Eine Gabel Kartoffeln, eine Gabel Schnitzel, eine Gabel Ketchup.
Anfangs essen alle schweigend, und el hört die Ess- und Trinkgeräusche von allen anderen. Sie stören el, sie fühlen sich eklig an. Am liebsten würde el sich die Ohren zuhalten. Els Oberkörper beginnt wieder, vor und zurück zu schaukeln. Irgendwann hält el es nicht mehr aus, holt Ohrenstöpsel aus els Hosentasche und steckt sie sich unauffällig ins Ohr. Besser. Auch das Fiepen der Deckenlampe und der Mehrfachsteckdose hinter el stören el jetzt nicht mehr.
Plötzlich richtet Hannelore das Wort an Elvin: „Also, ich weiß ja nicht wegen deinem Autismus. Hast du das wirklich? Ich habe jetzt seit ein paar Monaten ein autistisches Kind in meiner Klasse und das verhält sich ganz anders als du.“
Elvin seufzt. Kinder benehmen sich eben anders als Erwachsene. Außerdem ist Autismus ein Spektrum. Womit eine autistische Person Probleme hat, kann für eine andere überhaupt keins darstellen und umgekehrt. Und wenn das Kind schon in der Kindheit diagnostiziert ist, dann zeigt sich Autismus bei ihm vermutlich äußerlich mehr oder es hat größere Unterstützungsbedürfnisse. Wenn man wie Elvin das ganze Leben lang unbewusst autistische Verhaltensweisen versteckt, weil andere Leute sie komisch finden, dann fällt man eben durch das Raster. Was nicht heißt, dass man nicht autistisch ist; es heißt nur, dass man die Fähigkeit hat, es zu verbergen.
Elvin sagt nichts davon. Sprechen ist immer noch zu anstrengend und el ist zu müde, immer wieder und wieder dieses Gespräch zu führen. Ständig andere Leute aufklären zu müssen, weil fast niemand über Autismus Bescheid weiß.
Als Elvin nicht reagiert, fährt Hannelore fort: „Außerdem, sind wir nicht alle ein bisschen autistisch?“
Elvin verdreht die Augen. Nein. Sind wir nicht. Autismus ist ein Spektrum, aber das Spektrum geht nicht von „nicht autistisch“ bis „richtig doll autistisch“. Man ist autistisch oder man ist es nicht. Genauso wie bei Schwangerschaften: Man kann nicht „ein bisschen schwanger“ sein – man ist es, oder man ist es nicht. Aber Hochschwangere brauchen meist mehr Unterstützung als Leute am Anfang der Schwangerschaft. Zudem ist jede Schwangerschaft von Person zu Person unterschiedlich. Genau so ist es bei Autismus auch.
Hilfesuchend sieht Elvin els Mutter an. Die reagiert und legt Hannelore eine Hand auf den Arm. „Elvin erklärt es dir bestimmt gern noch einmal in Ruhe, heute geht es el leider nicht so gut. Aber warst du nicht vor Kurzem auf Rhodos? War es schön? Was hast du so gemacht?“
Beim ersten Satz will Hannelore noch aufbegehren, aber bei der Frage nach ihrem Urlaub ist jeder Gedanke an Autismus vergessen. Begeistert erzählt sie.

Als sie ein paar Stunden später endlich weg ist, ist Elvin so überstimuliert, dass el anfängt zu hyperventilieren. Früher dachte el immer, dass el Panikattacken kriegt; mittlerweile weiß el, dass es Meltdowns sind. Meltdowns sind Zusammenbrüche, die meist kommen, wenn die autistische Person zu überstimuliert ist. Dann geht gar nichts mehr.
Elvin verschwindet hastig auf els Zimmer und schließt die Tür. Dann fängt el an, hin und her zu tigern und mit den Händen zu wedeln. Elvin versucht, els Atem unter Kontrolle zu kriegen. El spürt, wie Tränen els Wangen hinunterrinnen. Ein Schluchzer entringt sich els Kehle. Eine von els Händen schlägt gegen els Kopf. El weiß nicht, warum, meistens kann el das nicht steuern, es scheint aber häufiger bei Meltdowns vorzukommen. Den zweiten Schlag kann el stoppen, bevor els Hand els Kopf erreicht. Aber die Bewegungen lassen nicht nach. El nimmt sich els Kopfkissen und lenkt die Bewegung in diese Richtung. Nicht ganz so befriedigend, aber ausreichend.
Dann bricht el weinend auf dem Boden zusammen, schaukelt hin und her und versucht einfach nur, dieses schreckliche Gefühl auszuhalten.
Nach einer guten Viertelstunde ist es endlich vorbei. Erschöpft und völlig ausgelaugt liegt el auf dem Boden und atmet.
Elvin ist zu müde, um sich noch umzuziehen. El zieht sich aus und legt sich dann ins Bett. Das war’s mit dem Tag. Hoffentlich wird es morgen besser.

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