Ich stehe bis zum Bauchnabel in der frühlingskalten Ostsee. Am Horizont steigt eine weiße Sonne aus dem Meer empor und taucht alles in ein fahles Licht. Nebelschwaden ziehen milchig-weiß über die Wasseroberfläche. Es herrscht eine gespenstische, aber dennoch irgendwie beruhigende Stille.
Das Wasser ist glatt wie ein Spiegel. Abgesehen vom Kreischen weit entfernter Möwen kann ich nur das leise Plätschern der flachen Wellen wahrnehmen, wie sie langsam das sandige Ufer umspülen. Ich genieße den Augenblick. Alles wirkt so leer. Aber ich weiß, dass der Eindruck täuscht. Unter der Wasseroberfläche wimmelt es vor Leben. Ein von der Natur reich gedeckter Tisch. Zwischen Felsen, Seetang und Algen tummeln sich Krabben, Würmer und kleine Fischchen. Nahrung für die Beute, auf die ich es abgesehen habe.
Das Zischen der durch die Luft peitschenden Gerte durchschneidet die Stille wie ein scharfes Messer, katapultiert das schmale Stück Blech am Ende der Schnur in Richtung Horizont. Es wird immer kleiner, bis nur noch ein schwarzer Punkt in das weit entfernte Wasser eindringt und sich durch ein kurzes weißes Aufschäumen verrät. Ich drehe schnell an der Kurbel meiner Rolle und spüre das Spiel des Blinkers in meinem Rutenarm. Ich hole ein, werfe aus und wiederhole das Spiel aufs Neue. Immer und immer wieder. Der wiederkehrende Bewegungsablauf von Wurf zu Wurf wird zur Monotonie. Mein Kopf ist frei. Es ist fast ein meditativer Zustand. Ich verschmelze mit meiner Umgebung. Die Konzentration auf das, was geschieht, schwindet. Einholen, Auswerfen, Einholen. Als würde es nur darum gehen. Erneut zischt die Rute durch die Luft, der Blinker fliegt gen Horizont und taucht ein, mit schnellen Umdrehungen ziehe ich die dünne Leine zurück auf die Spule. Ich spüre die unregelmäßigen Schläge des Köders im Handgelenk, irgendwo ganz weit weg, während meine Gedanken abdriften. So vergeht eine Stunde, dann zwei… ich verliere das Zeitgefühl.
Dann plötzlich fährt wie aus dem Nichts ein Schlag durch die Schnur über die Rute direkt in mein Handgelenk. Mit Gewalt hackt etwas kurz in den Lauf des Blinkers, stoppt ihn und lässt dann ab. Von einer Sekunde auf die andere bin ich voll da. Adrenalin rauscht ungebremst in meine Blutbahn. Meine Augen weiten sich. Mein erster Instinkt ist sofort weiter zu kurbeln. Doch ich tue nichts. Flatternd taumelt der Blinker irgendwo unter Wasser zu Boden. Das würde wahrscheinlich ein betäubtes kleines Fischchen auch machen, ein Hering oder ein Tobiasfisch, nachdem eine räuberische Forelle zu einem ersten Angriff angesetzt hat. Gebannt warte ich auf den Moment. Bruchteile von Sekunden ziehen sich in meinem Kopf in die Länge. Wird sie das Angebot annehmen? Ein weiterer, brutaler Schlag zieht die Rute als Antwort zum Halbkreis. Die Bremse der Rolle kreischt auf. Ssssssssss!
Wild zuckt die Spitze der Rute. Ich spüre, wie sich das Etwas am anderen Ende der Schnur zur Wehr setzt, wütend mit dem Kopf schüttelt. Nachdem Stunden von Monotonie ereignislos verstrichen sind, ist es plötzlich da. Lebendig, wild. Nur über die feine Schnur sind wir miteinander verbunden. Kommunizieren miteinander. Kämpfen gegeneinander. Der Fisch setzt zu einer ersten Flucht an. Er ist stark. Mehrere Meter Schnur werden durch die Bremse von meiner Rolle gezogen. Die bogenförmig gekrümmte Rute zittert und bockt auf und ab. Mit kräftigen Kurbelumdrehungen versuche ich die Schnur zurückzugewinnen. Gedanken schießen mir durch den Kopf. Bitte bleib dran! Hoffentlich sitzt der Haken gut! Wie groß sie wohl ist? Das Tier am anderen Ende versucht in alle Richtungen zu fliehen. Zuerst nach unten in die Tiefe und die Spitze meiner Rute neigt sich zu Boden. Dann wandert der Fisch nach links und rechts. Doch ohne Gnade wird er gehalten, kann sich nicht befreien und scheint kurz aufzugeben.
Dann plötzlich geht die Spannung aus der Rute und lässt sie in ihre gerade Ursprungsform zurückschnellen. Der Widerstand schwindet. Der Fisch hat eine Richtung zum Flüchten gefunden – er prescht direkt auf mich zu! Panisch drehe ich an der Kurbel, nehme so schnell wie möglich Schnur auf. Ich darf die Spannung nicht verlieren! Dann explodiert die Wasseroberfläche. Die Forelle schraubt sich mit ihrem gesamten Körper aus dem Wasser, springt in die Luft und schüttelt dabei wild mit dem Kopf. Mein Herz rutscht mir in die Hose.
Silber- blank blitzt ihre gewaltige Flanke in der Sonne auf. Sie ist groß. Noch nie in meinem Leben habe ich eine so große Meerforelle gesehen. Meine Augen sind weit aufgerissen. Hat sie den Blinker abgeschüttelt? Nachdem sie mit einem lauten Platschen wieder ins Wasser eintaucht, verrät mir die Krümmung meiner Rute, dass sie noch am Haken hängt. Es folgt eine zweite und dann eine dritte Flucht. Es ist nervenzerfetzend. Ich darf diesen Fisch nicht verlieren. Mein Herz schlägt wie eine Basstrommel. Schweiß tropft mir brennend in die Augen. Jetzt ist sie ganz nah. Ich kann ihren riesigen, silbernen Rücken im leicht trüben Wasser sehen, aber ich kann kaum glauben, was ich sehe. Mit zitternden Händen versuche ich den Kescher vom Magnetclip an meinem Rücken zu lösen, während sich meine andere Hand um den Griff der Angel verkrampft. Das Netz hat sich verheddert und ich muss den Kescher im Wasser schütteln, um es zu lösen. Es funktioniert. Jetzt ist alles bereit. Ich versuche den Fisch zu mir zu dirigieren. Aber als er mich und das grüne Netz im Wasser sieht, wird er panisch. Er setzt zu einer letzten Flucht an. Wieder kreischt die Bremse kurz auf. Die Spitze neigt sich zur Wasseroberfläche. Dann springt der Fisch erneut aus dem Wasser, keine zwei Meter von mir entfernt. Ich kann den Blinker am Maul hängen sehen, nur ganz knapp sitzt der Haken im Maulwinkel der Forelle. Doch nun hat sie endlich ihre Kraft verbraucht. Sie schwebt kurz unter der Oberfläche und zeigt mir voller Demut ihren weißen Bauch.
Langsam führe ich sie über das Netz meines Keschers, der angesichts der Größe des Fisches lächerlich klein wirkt. Mit einem beherzten Ruck ziehe ich den Kescher nach oben. Mit dem Kopf voran gleitet der Fisch in das Netz. Die Anspannung flüchtet sofort aus meinem Körper. Weicht einem befreienden, erlösenden Glücksgefühl. Ich schreie laut auf. Der Fisch schlägt und zappelt noch verzweifelt im Kescher, der Haken rutscht aus dem Maul. Doch entkommen kann sie jetzt nicht mehr. Die Forelle scheint das zu begreifen und beruhigt sich langsam.
Ungläubig starre ich in meinen Kescher, versuche die Größe des Fisches abzuschätzen. Dann überkommt mich ein Rausch an Emotionen.
Die schiere Schönheit dieses Tieres raubt mir den Atem, erfüllt mich mit Demut. Glänzend schimmern die silbernen Schuppen in der Sonne. Der bullige, massive Rücken ist übersät von schwarzen Punkten. Wie flüssiges Metall erscheint die Flanke, spiegelt das Blau des Himmels wieder. Ich habe nicht mal bemerkt, wie das Wetter aufgeklart hat.
Ungeschickt versuche ich den kleinen Knüppel aus der Tasche meiner Jacke zu ziehen. Bereit, das Leben dieser wundervollen Kreatur zu beenden. Doch ich halte inne. Wie erstarrt versuche ich zu begreifen, was ich sehe. Vorsichtig nehme ich den Fisch am Kiemendeckel und ziehe ihn behutsam aus dem Netz. In diesem Moment sind wir eins.
Das Tier wehrt sich nicht. Als wüsste es, dass das Ende nun gekommen ist. Tränen schießen in meine Augenwinkel. Wer weiß, wie viele Male dieser Fisch schon den weiten Weg vom Meer die Flüsse hinauf gewandert ist. Wie viele Meilen er in seinem Leben schon zurückgelegt hat. Von den dänischen Auen in die Weiten der Ostsee hinein. Ich halte diese wunderschöne Königin sanft unter dem Bauch und setzte sie behutsam zurück ins Wasser. Ich spüre, wie sie langsam begreift, dass sie frei ist. Als würde sie von mir Abschied nehmen, hält sie kurz inne und schwebt mit ihren Flossen im Wasser.
Dann schwimmt sie in ihrer ganzen Erhabenheit langsam davon.