Psychiatrie 2.0 am 9. August 2017 in der Berliner Freiheit
„Psychiatrie im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Zwang“
Das Bürgerhaus in der Vahr ist gut gefüllt. Mehr als 100 Menschen haben sich versammelt, um über das Thema „Zwang in der Psychiatrie“ zu sprechen – ein heikles Thema, ein brisantes Thema. Die Referenten sind hochkarätig, die Ideen sind innovativ und versprechen eine goldene Zukunft. Doch eine kritische Diskussion über diese Ansätze, über die teils bittere gegenteilige Realität und über mögliche Wege aus dem Dunkel findet im Plenum nicht statt.
Vielleicht bringt es Dr. Matthias Heissler, Arzt und erfolgreicher Reformer der Psychiatrie in Geesthacht, auf den Punkt, indem er sagt: „Ich komme immer wieder sehr gerne nach Bremen. Nirgends in Deutschland wird so lebendig über die Fragen der Psychiatrie gestritten wie hier.“ Ja, Psychiatrie 2.0 ist eine gute Veranstaltung. Bereits seit vier Jahren findet sie zweimal jährlich statt. Und es sind fast alle da, die etwas mit der Psychiatrie in Bremen zu tun haben: Von der Senatorin (die aber, wie so meist, nach ihrem Vortrag wieder gehen muss – der Wissenschaftsausschuss ruft, dafür nimmt sie sich zwei Tage später ausführlich Zeit für die Sitzung der Begleitgruppe Psychiatrie, dem Gremium, dass auch diese Veranstaltung vorbereitet hat) bis zu einer relativ großen Anzahl von (engagierten) Betroffenen.
Aber – der zweite Teil der Wahrheit lautet: Bremen liegt bei den Zwangsunterbringungen bundesweit mit an der Spitze, bei steigenden Zahlen. Insgesamt gab es im Jahre 2016 mehr als 5700 (dokumentier-te) Zwangsmaßnahmen in den Psychiatrien Bremen-Ost und Bremen-Nord. Eine Zahl, auf die Prof. Jens Reimer, Chef der stationären Bremer Psychiatrie, nicht stolz ist und die aus seiner Sicht dringend reduziert werden müsse. Bremen ist hier keine Ausnahme. Bundesweit steigen die Zahlen ebenfalls und das, obwohl Deutschland bei Zwangsmaßnahmen bereits schon jetzt auf dem zweiten Platz in Europa liegt (hinter Finnland). Bremens Psychiatriekoordinator Jörg Utschakowski merkt dazu an, dass „es dabei auch um eine Haltung in der Gesellschaft geht“. So sei zum Beispiel die Fixierung eines Patienten in England ethisch nicht vertretbar und würde deshalb dort durch ein (wahrscheinlich intensives) Festhalten des Patienten in einer Krise ersetzt. Dieses könne dann im Durchschnitt nach zwanzig Minuten beendet werden. Danach sei der Patient wieder so weit ruhig, dass die normale Behandlung weitergehen könne. In Deutschland verbleibe ein Patient im Durchschnitt (!) zehn Stunden in der Fixierung.
Dass es auch anders gehen kann, beschreibt Matthias Heissler. In Geesthacht gäbe es inzwischen nur noch eine Station mit zwanzig Betten für einen ganzen Landkreis mit über 180.000 Einwohnern. Alle anderen Menschen würden in der Krise durch ein umfangreiches, teils sehr kreatives und unkonventionelles System begleitet, in dem Zwangsbehandlungen erheblich haben reduziert werden können. Krisen-Interventionsteams spielten dabei eine besondere Rolle, welche sehr schnell eingreifen und dabei das Lebensumfeld des Klienten stark einbeziehen würden. So erzählt Heissler die Geschichte einer jungen Studentin, die dank einer solchen Intervention mit ihrer Psychose nach vier Tagen durch gewesen sei (eine Erfahrung, die der Autor auch schon bei einem Klienten erlebt hat; dieses scheint aber nur bei einer sehr intensiven und persönlichen Begleitung möglich zu sein, die bei den heutigen Strukturen leider sehr sehr selten praktisch umzusetzen ist – Geesthacht scheint da eine Ausnahme zu sein). Doch nicht nur ein anderer Einsatz (und vielleicht auch eine andere Haltung) der Profis spielt in Geesthacht eine große Rolle, sondern auch die Einbeziehung von Betroffenen in vielfältiger Art. Hr. Heissler erzählt von einem Mann in einer Krise, bei dem auch das Krisenteam nicht weiter gekommen war. Bereits zweimal hatte er stationär behandelt werden müssen. Bei der nächsten Krise sei die Idee aufgetaucht, dass ihm in seinem großen, halb leerstehenden Haus eine ebenfalls erkrankte Frau zur Seite würde stehen können. Es habe geklappt. Er sei ruhiger geworden, sie habe eine Aufgabe gehabt. Bald seien ungenutzte Zimmer als Krisenräume genutzt worden, bei denen EXINler als Unterstützer anwesend gewesen seien. Der Arbeitsansatz in Geesthacht basiert aber auch auf einer, gegenüber Bremen, völlig anderen Verteilung der Mittel. In Geesthacht wird ein Klinikbett für rund 10.000 Einwohner benötigt, in Bremen ist das Verhältnis ca. 1 : 1.000. Auch innerhalb Bremens gibt es solche Ungleichgewichte. Das Klinikum Bremen-Nord hält, bezogen auf die Einwohnerzahl, deutlich weniger Betten vor und meldet deutlich weniger Zwangsbehandlungen.
Die Bedeutung von Betroffenen in der psychiatrischen Versorgung hebt Dr. Martin Zinkler hervor, der über seine Erfahrungen im Klinikum Heidenheim berichtet. Die von ihm genannten „Peers“ sollten auf allen Ebenen beteiligt sein. Alle heißt bei ihm auch tatsächlich alle, auch die Geschäftsführung. Ansonsten scheinen in Heidenheim zwei Dinge bemerkenswert zu sein. Zum einen die sogenannte Therapieversammlung, anstelle von Visiten. Hier kämen alle zusammen: Patient, Behandler, Angehörige, Betreuer und wer auch noch wichtig sei. Die Termine für die Versammlungen würden bei der Aufnahme gleich festgelegt, so dass jeder Angehöriger immer wisse, wann er oder sie mit einem Arzt sprechen könne. Inhaltlich sei es so, dass die Tagesordnung von den Anliegen des Patienten, der Angehörigen, des Betreuers und zum Beispiel des Nachbarn bestimmt würden. So kehre sich auch das Hierarchieverhältnis in der Behandlung um. Zum anderen erzählt Dr. Zinkler von dem Konzept der offenen Stationstüren. Es gibt in Heidenheim keine geschlossenen Stationen. Das heißt, auch die geschlossenen untergebrachten Patienten würden dort nicht eingesperrt, wie es in 380 von 400 Psychiatrien in Deutschland üblich sei. Dr. Zinkler betont, dass diese Maßnahme das Gewaltpotential von Patienten erheblich reduziere, was ja auch sehr naheliegend und einleuchtend sei. Dr. Zinkler erweckt in seinem Vortrag die Hoffnung auf eine lebendige Psychiatrie mit möglichst wenig Zwang. Am Ende erwähnt er aber, dass die Neuroleptikavergabe in seiner Klinik wieder ansteige (was aus seiner Sicht vermutlich an der Angst der Mitarbeiter vor den Patienten liege) und dass die Zahl der Zwangsbehandlungen in Heidenheim ähnlich hoch sei wie in Bremen. Warum ist dieses so? Fragen sind bei den Vorträgen nicht zugelassen. Die im Programm angekündigte Abschlussdiskussion findet nicht statt, so dass an dieser Stelle, wie leider auch an einigen anderen, offene Fragen bleiben.
Eine Antwort könnte in dem Vortrag von Robert Hayduck zu finden sein, leitender Pfleger der Heines-
Klinik. Er berichtet, dass es in den vergangenen Jahren eine starke Zunahme von Patienten gäbe, die unter Zwang in die Klinik gebracht würden. Das würde bedeuten, dass zumindest ein (größerer?) Teil der Zwang-Patienten von außen kommen würden. Der Zwang würde nicht in der Klinik, sondern
„draußen“ entstehen. Allerdings muss dabei berücksichtigt werden, dass es sich bei einer Einweisung in
der Regel nur um einen 24stündigen Beschluss handelt, der dann von einem Richter verlängert werden kann. Es bleibt aber die Frage offen, wie und wo Zwang entsteht und wen es am meisten betrifft. Handelt es sich überwiegend um Menschen, die nicht im Versorgungssystem sind, oder kommen die ambulanten Träger und Heime zunehmend an Grenzen und müssen ihre Klienten zwangseinweisen lassen? Oder entsteht die Zunahme in der Klinik selber?
Wie verschieden eine Krisen-Situation ablaufen kann, macht Ruth Fricke vom Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen deutlich, die eindrücklich von ihren eigenen Erlebnissen in Krisensituationen erzählt. Von positiven, als ein feinfühliger, engagierter Arzt sie mit einer zarten Medikation über mehrere Wochen durch einen psychotischen Schub brachte und sie danach wieder in ihr Alltags- und Berufsleben zurückkehren konnte. Und von den negativen, als sie in einer Klinik gleich mit einer massiven Dosis Neuroleptika „weggespritzt“ wurde und der Richter sie am nächsten Tag zwar anhörte, dann aber grußlos ging und einen Beschluss über mehrere Wochen ausstellte. Oder von dem Arzt, den sie bat, sich mit einer Klinik in Verbindung zu setzen, da sie dort mit einer bestimmten Medikation gute Erfahrungen gemacht hatte. Seine Antwort lautete: „Entweder sie nehmen das, was ich verordne oder ich veranlasse einen Beschluss! “ Ruth Fricke spricht sich auch gegen die geschlossenen Stationen aus. Die seien wie ein „Dampfkessel, das hält keiner aus.“ Dass dann Gewalt und in der Reaktion Zwangsmaßnahmen entstünden, sei naheliegend.
Nach fast zwei Stunden Vorträgen und einer längeren Pause, geht es für eine halbe Stunde in drei Arbeitsgruppen, mit den Referenten Dr. Martin Zinkler, Dr. Matthias Heissler und Ruth Fricke. Dort können Fragen gestellt werden und es gibt einen Austausch. Doch danach wird nun nur kurz berichtet, was in den Arbeitsgruppen gesprochen wurde. Die angekündigte und nötige kritische Diskussion findet dann leider (aus Zeitgründen?) nicht statt. Dabei hatte die Senatorin Frau Quante-Brandt in ihrem Eingangsstatement doch bereits gesagt: „Dass wir ein Problem mit den Zwangsbehandlungen haben, wissen wir.“ In den Referaten wurden gute Ansätze und Ideen vermittelt. Doch warum genau die Situation in Bremen so schlecht ist und wie es besser werden soll, bleibt an diesem Nachmittag in der Berliner Freiheit offen.
Vielleicht braucht es für Veränderungen noch mehr gesellschaftlichen Druck. Mathias Heissler spricht in seinem Workshop von der „Heuchelei der Sonntagsreden, wenn von ambulant statt stationär“ gesprochen werde und fordert die anwesenden Betroffenen auf, sich stärker zu Wort zu melden: „Wenn Sie auf dem Marktplatz die Zelte aufschlagen, werden die auch auf sie hören.“
Sabine Weber tut dieses am Ende der Veranstaltung und weist auf problematische Situationen in der Klinik Bremen-Ost hin. Eine Diskussion findet darüber nicht statt. Bremens Psychiatriekoordinator Jörg Utschakowski merkt aber an, dass man überlegen müsse, wo und wie man in Zukunft über solche konkreten Probleme sprechen könne.