Als Claudia nach Hause kam, schloss sie den Briefkasten auf. Post lag dort drin, von einer Hilfsorganisation. Schon wollte sie den Brief ungeöffnet in die Papiertonne entsorgen, nahm ihn dann aber doch mit nach oben in ihre Wohnung.
Ein Spendenaufruf, natürlich, diesmal für die Begleitung einsamer Menschen in der Weihnachtszeit. Gefühlsduselig, dachte sie. Von einer Frau war dort die Rede, die alleine in ihrer kalten, kargen Wohnung sitze und nichts mehr fühlen könne, weder Freude noch Trauer, kraftlos sei und einsam.
Doch je weiter Claudia las, desto mehr und mehr beschlich sie das Gefühl, man schriebe über sie, exakt über sie. In ihrer Wohnung war es ja tatsächlich kalt, die Heizung war aus und auch ein Weihnachtsbaum fehlte. Und ja: Wie die Frau im Schreiben meinte auch Claudia, schon lange keine Kraft mehr zu haben, nur noch seelenlos zu funktionieren. Die Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit war noch da, aber eingeschlossen wie in einem Eiszapfen. Claudia fühlte sich wie ertappt.
Und nun? Sie legte die Post auf den Küchentisch. Soll ich jetzt für mich selbst spenden? Damit Heiligabend Wir sind Engel e. V. zu mir nach Hause kommt? Um mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, wie es dort heißt?
Claudia ging ans Fenster und schaute runter in die Gärten. Drüben wohnte ein junges Paar. Jedes Jahr zu Weihnachten feierten sie mit Freunden im Garten. Heiteres Lachen drang an ihr Ohr, auf ihrem Gesicht tanzte der Widerschein der Fackeln. Sie zog die Gardinen zu.
Mir fehlt der Lebensmut, dachte sie. Er hat mir schon immer gefehlt. Der Mut zur Ausgelassenheit, zur Freundschaft, zur Liebe und auch zu Kindern.
Im Bad besah sie sich im Spiegel: eine Frau mittleren Alters, schulterlanges braunes Haar, dunkle Augen. Ein paar Falten sind dazu gekommen, lächelte sie. Eine schöne Frau … die in einer Höhle der Einsamkeit vegetiert – und ihr Lächeln verschwand wieder.
Nachts pfiff der Wind kalt durch die Häuserreihen. Der Regen prasselte gegen die Scheiben. Claudia wälzte sich hin und her und träumte wirr. Sie stand auf, schaute nach draußen in die verlassenen Gärten, machte sich einen Tee und schrieb dann einen Brief …
Zwei Tage später, kurz vor Heiligabend, nahm sie ein beiges Kuvert aus dem Briefkasten. Es fühlte sich weich und samtig an. Am Küchentisch öffnete sie es vorsichtig und zog einen Brief heraus. WUNSCHZETTEL stand dort in Großbuchstaben:
Liebe Claudia,
ich wünsche dir ein schönes und friedliches Weihnachtsfest.
Dreh die Heizung hoch, und lege dir ein paar grüne Zweige auf den Wohnzimmertisch, wenn du dir schon keinen Weihnachtsbaum kaufen willst.
Koch dir ein gutes Essen. Früher hast du an Weihnachten immer dein berühmtes Zimt-Gulasch gemacht. Das war köstlich.
Mach es dir gemütlich auf deinem Sofa.
Und ruf Tante Lisbeth an; die freut sich.
Dieses Jahr war anstrengend. Die Einsamkeit nagt an dir. Versuche, andere einfach anzulächeln. Meistens kommt ein Lächeln zurück.
In diesem Sinne: schöne Weihnachten und ein gutes neues Jahr!
Deine Claudia
Ich schreibe mir selbst, na und? Sie lächelte trotzig und drehte die Heizung hoch. Ups! Gleich auf Fünf! Na gut, wenn schon, denn schon.
Weihnachten und Silvester. Aus dem Zimt-Gulasch wurde nichts. Das Gulasch musste man vorbestellen; aber eine Tiefkühlpizza mit einem Glas Rotwein taten es auch. Im Fernsehen schaute sie eine Doku über den Schneewinter Ende der Siebzigerjahre in Norddeutschland; und vor ihrem geistigen Auge sah sie sich wieder als Schülerin, die sich durch Berge von Schnee zur Schule kämpft. Mein Gott, was hatte sich alles verändert in den Jahrzehnten danach. Das meinte auch Tante Lisbeth, bezog es aber auf Claudias Mutter, die vor zwei Jahren gestorben war.
Am Neujahrstag packte Claudia ihre Schmutzwäsche in eine blaue Plastiktasche und ging zum Waschsalon, der an diesem Tag meistens nicht so voll war. Und richtig, nur einer saß dort, las Zeitung, vor ihm eine Bierflasche, und wartete darauf, dass seine Wäsche fertig wurde. Den hatte sie dort schon oft sitzen sehen. Ein bisschen verpeilt der Mann, aber eigentlich ganz sympathisch. Vermutlich auch jemand, der sich nie so richtig getraut hat im Leben.
Beim Befüllen der Trockner begegneten sich ihre Blicke, und beide lächelten sich an.
„Entschuldigung, dass ich Sie anspreche, aber darf ich Sie auf ein Bier einladen?“, fragte er.