Autor:in: Manschke, Lean

Ein Jahr später – Der letzte Teil meiner vier Kurzgeschichten über ADHS und Autismus

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Dieser Teil ist Teil 4 meiner Kurzgeschichten-Reihe über ADHS und Autismus. Wer die noch nicht gelesen hat, sollte das zuerst tun, sonst wird diese Geschichte nicht viel Sinn ergeben.
Teil 1: Ein Leben mit ADHS
Teil 2: Ein Leben mit Autismus
Teil 3: Ein Leben mit AuDHS
Teil 4: Ein Jahr später
(Teil 1-3 müssen nicht unbedingt in dieser Reihenfolge gelesen werden, glaub ich)

Ein Jahr später

Laura sitzt im Wartezimmer einer Psychiaterin. Sie hat lange warten müssen, aber heute ist endlich der Tag, an dem sie die Diagnostik zu ADHS durchführen lässt. Sie hat sich lange gefragt, ob sie überhaupt eine offizielle Diagnose braucht. Aber sie würde gern mal Medikation ausprobieren und gucken, ob es ihr hilft. Sie hat von anderen gehört, dass durch den erhöhten Dopamin-Spiegel viel mehr Ruhe im Kopf einkehrt, und Laura wünscht sich das so sehr. Es ist so anstrengend, wenn man gefühlt ununterbrochen 50 verschiedene Tabs im Kopf offen hat, irgendwelche Stimmen im Kopf durcheinanderreden und dann auch noch Musik auf Dauerschleife läuft.
Im Wartezimmer sitzen noch zwei weitere Personen. Eine schaukelt minimal mit dem Oberkörper vor und zurück, die andere hat ein Fidget-Toy in der einen Hand und ein Handy in der anderen.
Bevor Laura ihren Mund bremsen kann, hat sie schon ausgesprochen, was sie denkt: „Seid ihr auch hier zur Diagnostik?“
Beide heben den Kopf und sehen sie an. Dann nicken sie.
„Ich auch“, sagt Laura. „ADHS.“
Der Junge schmunzelt. „Bei mir auch. Auch Autismus, aber der Termin steht erst in ein paar Monaten an.“
Die dritte Person sieht keinem von beiden ins Gesicht, als sie sagt: „Autismus bei mir.“
„Voll cool!“, bricht es aus Laura heraus. „Ich kenne sonst niemanden persönlich, der auch neurodivergent ist. Wisst ihr, was genau die bei der Diagnostik testen?“
Die eine Person zuckt nur mit den Schultern; da sie auf unterschiedliche Sachen getestet werden, würde eine Antwort zur autistischen Diagnostik Laura nicht weiterhelfen. Doch der Junge antwortet ihr.

Die Wartezeit zieht sich. Luca hasst warten so sehr. Er versucht, sich mit seinem Handy abzulenken, aber es ist schwer. Deshalb ist er fast schon erleichtert, als das Mädchen ihm gegenüber ein Gespräch beginnt. Vor allem zu seinem aktuellen Hyperfokus, Neurodivergenz. Darüber kann er immer reden, sogar mit Fremden. Auch, wenn er dabei gestresst ist.

Elvin sieht den Jungen neben sich an. Auch Autismus, hm? Vielleicht kann el sich mit ihm ja darüber austauschen. Elvin fühlt sich meistens sehr allein; jemanden zu haben, der Erfahrungen mit el teilt, könnte sehr erleichternd sein.

Als Laura aufgerufen wird, springt sie auf. „Oh Gott, ich bin dran. Wie sieht’s denn aus bei euch, habt ihr Lust, in Kontakt zu bleiben? Ich brauche wirklich Leute, die mich verstehen und nicht genervt sind von mir. Oder mich komisch finden.“
Elvin kann das so gut nachvollziehen. Normalerweise würde el niemals mit einer Fremden Nummern austauschen und sich dann auch noch mit ihr treffen, doch el sehnt sich so sehr nach Verbindung und Verständnis, dass el einwilligt. Auch Luca ist dabei.

Ein paar Monate später treffen sie sich. Luca hat mittlerweile auch seine Autismus-Diagnostik hinter sich und beide Diagnosen gestellt bekommen. Auch Laura und Elvin haben ihre Diagnosen. Laura nimmt seit ein paar Wochen Medikinet und berichtet den anderen beiden von ihren Erfahrungen. „Es ist total verrückt. Ich kann Dinge plötzlich einfach tun?! Ohne mich zwei Stunden lang innerlich anzuschreien? Mit den Sachen wieder aufzuhören fällt mir allerdings immer noch schwer.“
Luca muss lachen. Er kennt das so gut.
„Das Komischste aber war“, fährt Laura fort, „dass ich meine Wohnung aufgeräumt habe, und dann habe ich mich aufs Sofa gelegt und einfach nichts getan. Nichts. Ich lag nur herum, ich musste mich nicht bewegen, ich hatte nicht mal Musik an. Ich lag wirklich nur rum, bestimmt zehn Minuten lang!“ Sie sieht komplett fassungslos aus. Luca grinst.
„Der Rebound ist allerdings nicht so toll. Also, wenn das Medikament nachlässt, dann falle ich in ein kleines Loch. Es ist also alles nicht so ideal.“ Sie seufzt.
„Ob sich neurotypische Menschen immer so fühlen? Also, dass sie die Dinge einfach anfangen können. Und dass sie Ruhe im Kopf haben und nicht ständig unter Strom stehen“, fragt Luca. Laura zuckt nur mit den Schultern, aber Elvin sagt: „Das habe ich zumindest so gehört.“
Alle drei halten inne und versuchen, sich das vorzustellen. Dann schütteln sie die Köpfe.
Ihre Diagnosen haben, von den Medikamenten bei Laura abgesehen, nicht viel in ihrem Leben geändert. Elvin möchte einen Antrag auf Behinderung stellen und hofft, mit els Diagnose im Berufsleben später Unterstützung und Hilfsmittel zu bekommen, die el helfen werden, den Berufsalltag zu schaffen. Luca haben die Diagnosen Selbstverständnis und Selbstakzeptanz gegeben. Und die drei wissen nun, dass sie das Spiel des Lebens die ganze Zeit auf „Schwer“ gespielt haben, während die meisten anderen auf „Leicht“ spielen und ihnen immer zurufen, warum sie die Dinge nicht einfach tun, es ist doch so leicht.
Neurodivergenz ist keine Krankheit. Menschen werden mit Autismus und ADHS geboren, sie zeigen physiologisch eine andere Gehirnstruktur als neurotypische Menschen. Die Gehirne funktionieren anders. Deshalb gibt es keine Heilung für Neurodivergenz und es sollte auch nach keiner gesucht werden. Denn die Vielfalt in uns allen ist wunderschön.
Neurodivergenz ist keine Krankheit, aber in dieser Gesellschaft ist es oft eine Behinderung. Diese Welt ist nicht für neurodivergente Menschen gemacht – sie ist zu laut, zu hell, zu chaotisch, zu verwirrend, zu viel.
Die meisten Menschen haben keine oder nur wenig Ahnung von Autismus oder ADHS, und beides, aber insbesondere Autismus, wird immer noch stark stigmatisiert. Auch viele professionelle Menschen haben erschreckend wenig Ahnung von den Themen. So hat Laura von einer Ärztin gesagt bekommen, dass sie kein ADHS haben könnte, sie sei ja nicht drogenabhängig. Und Luca hat von jemandem gehört, dass eine Psychiaterin zu ihm gesagt habe, er könne nicht autistisch sein, weil er ja noch Empathie habe. Beide Aussagen machen die drei ziemlich ärgerlich. Während überdurchschnittlich viele ADHSler ein Problem mit Substanzmissbrauch haben, ist es kein Kriterium, das einem ADHS zu- oder absprechen kann. Und dass Autist*innen keine Empathie empfinden können, ist ein leider immer noch weit verbreiteter Irrtum. Viele autistische Menschen haben sogar überdurchschnittlich viel Empathie. Manche haben vielleicht Probleme, Gesichtsausdrücke richtig zu deuten oder auf ihren eigenen Gesichtern die „passenden“ Gesichtsausdrücke herzustellen, aber wenn man ihnen erklärt, warum man traurig ist, fühlen sie das Gefühl oft selbst sehr stark und sind auch sehr mitfühlend.
Das ist eben das Problem, wenn alte weiße Männer ihre Studien nur an kleinen, weißen cis Jungs durchführen, die autistische Verhaltensweisen sehr auffällig zeigen, und dann darauf schließen, dass alle Autisten so sein müssen. Es wurde jahrzehntelang auch gedacht, dass Frauen gar kein ADHS haben und auch nicht autistisch sein können. So langsam kommt die Wende und es werden immer mehr Studien an verschiedenen Gruppen durchgeführt. Auch der neue ICD-11 führt mittlerweile in den Diagnosekriterien auf, dass sich Autismus bei Frauen anders äußern kann und dass es Masking gibt, wodurch autistische Verhaltensweisen versteckt werden können.
„Oh, Luca“, sagt Laura, „ich weiß nicht, ob du das schon wusstest. Aber ich habe letztens Body Doubling ausprobiert und es funktioniert so gut!“
„Body was?“, fragt Elvin.
„Body Doubling“, antwortet Laura. „Das ist, wenn man eine andere Person, also einen anderen Body, in der Nähe hat, wenn man Dinge schaffen möchte. Aus irgendeinem Grund hilft es meinem Gehirn sehr dabei, die Dinge anzufangen. Ich weiß nicht, warum. Aber die Person muss nicht mal mit mir zusammenarbeiten, sie kann ihr ganz eigenes Ding machen, und trotzdem hilft es mir. Wirklich Wahnsinn!“
„Das ist gut zu wissen“, sagt Luca. „Das muss ich mal ausprobieren, meine Wohnung ist nämlich schon wieder pures Chaos.“ Er seufzt.
Nebenan fängt ein Kind an zu schreien und Elvin und Luca zucken zusammen, während ihre Hände sich sofort zu ihren Ohren bewegen. Lucas Hände halten fast sofort wieder inne, weil er den Drang immer noch automatisch unterdrückt. Er merkt es und steckt sich die Finger dann bewusst in die Ohren.
Laura winkt einem Kellner. „Lasst uns gehen. Wir können ja zu dir fahren, Luca, und ein bisschen Body Doubling betreiben.“ Sie schmunzelt.
Luca nickt, doch Laura sieht den Stress in seinen Augen. Sie wird ihn gleich noch mal fragen, wenn sie in einer ruhigeren Ecke sind.
Als sie das Restaurant verlassen, hört das Kind auf zu schreien und die Hände verlassen die Ohren. Elvin sieht trotzdem sehr angespannt aus, els Hände wedeln. „Zu viel?“, fragt Laura. El nickt. „Ist okay“, sagt Laura. „Du kannst ruhig nach Hause fahren, wenn du Ruhe brauchst. Wir treffen uns bestimmt noch mal.“
Elvin kann nicht sprechen, aber el nickt erneut. Das wäre schön. El winkt, die anderen winken zurück, und el macht sich auf den Weg nach Hause.
Es ist wirklich schön, Menschen zu haben, die einen verstehen. Es ist wirklich schön, nicht mehr allein zu sein.

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