Was muss geschehen, damit mir nichts geschieht?
Aus eigenem Interesse und als Botschafterin bin ich nach Berlin gefahren, um an dem am 18. und 19. Nov. 2016 vom Betroffenenrat (sexuellen Missbrauchs) ausgerichtetem Kongress „MitSprache“ teilzunehmen.
Der Kongress MitSprache war die erste öffentliche Veranstaltung des Betroffenenrates, und fand zeitgleich zum zweiten „Europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch“ (18. November) statt. Ziel war es, Raum zum direkten Austausch von Betroffenen für Betroffene von sexualisierter Gewalt und UnterstützerInnen zu schaffen, um zu diskutieren, Wissen auszutauschen, Vernetzung zu organisieren. Auf diesem Kongress ging es darum, sich mehr Gehör zu verschaffen, Lebensrechte nachdrücklich zu benennen und Wege zu finden, diese durchzusetzen.
Themen waren u.a.:
– Zusammenhang von Betroffenheit und professionellem Mitarbeit klar benennen
– Vernetzung von Betroffenen und internationale Zusammenarbeit schaffen
– ergänzendes Hilfesystem überarbeiten
– Reform des Opferentschädigungsgesetzes
– Beratungs- und Therapieangebote besprechen
– dringend notwendige Aufarbeitung unterstreichen
– Forschung nur mit betroffenenkontrolliertem Ansatz und Partizipation (Teilhabe)
Ich selbst bin betroffen, eine Überlebende sexuellen Kindesmissbrauchs, ich habe es nach langem Überlebens-Weg geschafft, an diesem so wichtigen Kongress teilzunehmen. Was ich dort erlebte, war und ist sehr bedeutsam für mich, und auch für alle anderen Teilnehmer dieses Kongresses. Es ist nicht einfach, die vielen Eindrücke zu schildern, die dieses Treffen verursacht hat. Über 200 Menschen, die direkt oder indirekt vom Thema „sexueller Kindesmissbrauch“ betroffen sind, verbrachten zwei Tage gemeinsam in Workshops, im Plenum, beim Essen und in vielen Einzelgesprächen. Die Planung und Umsetzung waren einfühlsam und angemessen. Fernsehen war nicht zugelassen, Presseleute mussten warten, ob Betroffene auf sie zugehen. Es gab Bereiche, in denen nicht fotografiert werden durfte, einen psychologischen Notdienst, einen Rückzugsraum und durchgängig viel zu essen. Benennen will ich die Kraft und Energie, die zu spüren war und die es möglich machte, um auf diesem Kongress das Wissen und die Fachkompetenz von Betroffenen zu nutzen. In mehreren verschiedenen Workshops wurden politische Entscheidungen und Prozesse beleuchtet. Wir sind in Handlung gegangen, um weitere Wege zu erarbeiten und zu entwickeln, um Impulse der gesellschaftlichen Auseinandersetzung aufzunehmen und die Dringlichkeit weiteren Handlungsbedarfs zu benennen. In allen Workshops wurden Ergebnisse gesammelt, die der Betroffenenrat bündeln und veröffentlichen wird. Alle Beteiligten waren sich einig, dass ein gesetzlicher Auftrag, dringlicher zu handeln, notwendig ist. Ausdrücklich wurde von den Mitgliedern der Kommission betont, weiterhin Betroffene zur Mitarbeit in verschiedenster Form zu ermutigen.
Die internationale Beteiligung war beachtlich mit VertreterInnen aus den USA, Nicaragua, Polen, England und Spanien. Ebenso waren VetreterInnen der Unabhängigen Aufarbeitungskommission sowie einige Beratungsstellen wie z.B. Petze und Wildwasser vertreten. Kongress begleitend gab es eine Ausstellung von Betroffenen, in der in Bildern und Texten zumeist das eigene Schicksal seinen Ausdruck fand.
Der Betroffenenrat (BR)
ist ein Fachgremium zu Fragen des sexuellen Missbrauchs, bestehend aus Unabhängigen Beauftragten. Der BR wurde im Auftrag der Bundesregierung gegründet. Zuständig ist das Amt des Unabhängigen Beauftragten sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Anlaufpunkt für die Anliegen von Betroffenen und deren Angehörigen, für ExpertInnen aus Praxis und Wissenschaft, sowie für alle Menschen in Politik und Gesellschaft, die sich gegen sexuelle Gewalt engagieren. Der BR hat sich im März 2015 konstituiert mit dem Ziel, Belange möglichst vieler Betroffener auf Bundesebene Gehör zu verschaffen und die Betroffenensicht mit der vielfältigen Fachkompetenz aus Erfahrung öffentlich sichtbar zu machen. Seine 15 Mitglieder, selbst Betroffene von sexualisierter Gewalt in verschiedenen Kontexten, sind von einem Auswahlgremium berufen und arbeiten seit Jahren beruflich oder ehrenamtlich mit
diesem Thema. Der BR nimmt die Ursachen, Folgen, Ausmaß und Dunkelziffer von sexualisierter Gewalt gegen Mädchen, Jungen, trans*- und inter*geschlechtliche Kinder und Jugendliche grundlegend in Augenschein. Er stellt den Schutz und die Unterstützung Betroffener in den Mittelpunkt.
Mein Fazit nach diesen Treffen ist:
Das Ziel des Kongresses, in Austausch, mehr Öffentlichkeitsarbeit, in Zusammenarbeit fachkompetenten Betroffenen zu gehen, wurde erreicht, aber es gibt viel zu tun. Noch lange nicht genug wird benannt, wie groß das Ausmaß der Missbrauch-Gewalttaten von Menschen an Menschen ist. Auf politischer Ebene wird auch in unserem Land noch viel zu wenig getan, um dieses zu verhindern.
Zusätzlich herrscht in Bezug auf Präventionsarbeit und Umgang mit Betroffenen immer noch ein großer Mangel an Unterstützung und Anerkennung der Notwendigkeit von staatlicher Seite.
Es bedeutet für mich:
Keine Entwarnung!
Ich fordere:
Schluss mit dem Schweigen, um dadurch TäterInnen keine Gelegenheiten zu geben.
Denn ich meine:
Nicht Menschen mit Traumafolgestörungen sind „anormal“, sondern krank sind die Verhältnisse, in denen Gewalttaten geschehen können. Absolut überfällige Veränderungen im Strafrecht, die Verlängerung der strafrechtlichen Verfolgbarkeit von sexuellem Missbrauch und eine umfassende, systematische und unabhängige Aufarbeitung von Missbrauchsfällen, auch solche zum jetzigen Zeitpunkt als verjährt bezeichnete, sind notwendig.
Ich ermutige alle:
Steht auf, benennt, klagt an, schreibt, schreit, macht öffentlich was passiert.
Bericht zur aktuellen Situation:
Am 31.1.2017 erschien ein Artikel im WESER-KURIER, in dem das tatsächliche Ausmaß der Folgeschäden erlebten sexuellen Kindesmissbrauchs benannt wird. Außerdem fand am 31.1.17 das erste öffentliche Hearing der Aufarbeitungskommission mit dem Schwerpunkt „Familie“ in Berlin statt, auf dem sich Betroffene zu Wort meldeten. Das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der Familie, das Schweigen und Vertuschen seitens des Umfeldes und die Folgeschäden waren Thema. Gleichermaßen das Versagen der Gesellschaft, das Versagen des Rechtssystems sowie bestehende Schwierigkeiten, um als Opfer im Zuge des Opferentschädigungsgesetzes anerkannt zu werden und Hilfe zu bekommen. Im Januar 2017 forderte Renate Bühn, Mitglied des Betroffenenrates, in einer Petition u.a. die Beteiligung des Landes Bremen am „Ergänzenden Hilfesystem“ für Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs. Die Petition und der Artikel haben viel in Gang gebracht. Das Anliegen der Petition ist in den letzten Wochen in der Bremer Bürgerschaft und den Fraktionen heftig diskutiert worden. In ihrem zwar ablehnenden Schreiben hat Senatorin Anja Stahmann das OEG als rechtliche Absicherung von Hilfe für Opfer benannt. Die CDU-Fraktion hat aktuell einen Dringlichkeitsantrag in der Bremischen Bürgerschaft eingereicht, der debattiert wird.
Studienberichte
Die ausdrückliche Notwendigkeit weiteren Handelns zeigen Studienberichte auf. Sexuelle Gewalt ist ein gravierendes Problem in unserer Gesellschaft: Eine repräsentative Umfrage unter 14- bis 90-Jährigen1 zeigt: Mehr als jeder zehnte Mensch hat in der Kindheit und Jugend sexuellen Missbrauch erlebt. Andere Studien2 mit Befragten unterschiedlichen Alters (16- bis 59-Jährige bzw. 16- bis 39-Jährige) gehen von Häufigkeiten zwischen sechs und 16 Prozent aus. Repräsentative Untersuchungen zu sexueller Gewalt bei Mädchen und Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen (15- bis 65-Jährige) weisen darauf hin, dass diese zwei- bis dreimal häufiger sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend ausgesetzt sind als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt3. An den Folgen sexueller Gewalt tragen die Betroffenen schwer, oft ein Leben lang. Neben posttraumatischen Belastungsstörungen leiden sie als Folge unter Depressionen, Suchterkrankungen, Bindungs- und Angststörungen sowie sexuellen Störungen. Lebenskrisen bis hin zu Suizidversuchen treten auf. Die Betroffenen leiden meistens auch an körperlichen Langzeitfolgen wie multiplen unklaren gynäkologischen Erkrankungen, Adipositas u.a. . Insbesondere bei Betroffenen mit chronifizierten psychischen Erkrankungen, die sich infolge der
sexuellen Gewalterfahrung entwickelt haben, kommt es gehäuft zu Frühverrentungen. Bisher bekommen Betroffene sexueller Gewalt oft nicht die Hilfe, die sie dringend benötigen. Die Anerkennung als Opfer in der Gesellschaft; Therapieangebote sind immer noch mangelhaft. Die Hürden im Gesundheitssystem sind hoch, der Wunsch, medizinische Behandlungen oder Beratungsangebote schneller und gezielter in Anspruch nehmen zu können4 wird verhindert dadurch, dass Stundenkontingente begrenzt, Wartezeiten lang sind. Alternativverfahren, wie beispielsweise nonverbale Kreativtherapien oder Körpertherapie müssen von den Betroffenen selbst finanziert werden. Nur wenige Betroffene erhalten eine geeignete Traumatherapie. Viele finden auch in Regionen, die laut Kassenärztlicher Vereinigung gut versorgt sind, keine Hilfsangebote. Besonders groß ist das Problem in ländlichen Gegenden5. Außerdem hat sich gezeigt: Ältere Patientinnen und Patienten sowie männliche
Betroffene haben besondere Schwierigkeiten, eine adäquate Behandlung zu erhalten.
Kontakte & Information
Hilfetelefon Sexueller Missbrauch
Postadresse: N.I.N.A. e.V., Dänische Str. 3-5, 24103 Kiel
E-Mail: beratung@hilfetelefon-missbrauch.de
www.hilfeportal-missbrauch.de
Telefon: 08000 – 22 55 530 Bundesweit, kostenfrei und anonym Tag und Nacht
Das „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“ ist die bundesweite, kostenfreie und anonyme
Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt, sowie für Angehörige und Personen aus
dem sozialen Umfeld von Kindern, für Fachkräfte und für alle Interessierte. Es ist eine
Anlaufstelle für Menschen, die Entlastung, Beratung und Unterstützung suchen, die sich um
ein Kind sorgen, die einen Verdacht oder ein „komisches Gefühl“ haben, die unsicher sind.
Es ist ein Angebot des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen
Kindesmissbrauchs. Die Gespräche werden von N.I.N.A. e.V. (Nationale Infoline, Netzwerk
und Anlaufstelle zu sex-ueller Gewalt an Mädchen und Jungen) geführt. N.I.N.A. trägt die
fachliche Verantwortung für das Hilfetelefon.
Kontaktadressen Bremen und weitere
Mädchennotruf (Mädchenhaus Bremen e.V.)
Telefon: 0421 – 34 11 20 Tag und Nacht
Kinder- und Jugendschutz-Telefon (Jugendamt Bremen):
Telefon: 0421 – 6 99 11 33 Tag und Nacht
Schattenriss – Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen e.V.
Waltjenstraße 140, 28237 Bremen. Email: info@schattenriss.de
Telefon: 0421 – 617 188 Mo und Fr O 11.00 – 13.00 Uhr, MiO 14.00O – 16.00 Uhr
Hilfetelefon “Gewalt gegen Frauen”
Telefon: 08000-116 016 Tag und Nacht (kostenfrei)
kontakt@gewalt-gegen-maenner.de
http: //www.weisser-ring.de/
Telefon: 01803 – 34 34 34 Tag und Nacht
telefonseelsorge@dbk.de
Telefon: 0800 – 111 0 111
0800 – 111 0 222
116 123 Tag und Nacht (kostenfrei)
Bremer Opfer-Notruf der Polizei Für Opfer von Straftaten / Stalkingopfer
Telefon: 0800 – 2800 110 Tag und Nacht (kostenfrei)