In dieser Geschichte geht es um den alternativen Umgang mit psychisch beeinträchtigten Personen in besonderen Lebenssituationen.
Ich besuche nun seit geraumer Zeit diverse Fortbildungen und lerne im Zuge dessen auch immer wieder neue Lebensbegleiter kennen. Diese „Verbündeten“ faszinieren mich mehr und mehr und ich erfahre immer wieder neue Möglichkeiten, wie man mit Mitmenschen in besonderen, teils schwierigen Lebenssituationen umgehen kann, ohne die Menschen dabei zu beschneiden. Ich würde diese Fallbeispiele gerne mit anderen teilen und hoffe, sie auch wahrheitsgetreu widergeben zu können.
In einem Fall schilderte ein Kollege eine Situation von einem Menschen mit Desorganisationsproblematik (umgangssprachlich: „Messi“). Er berichtete davon, dass dieser Mensch gerne Papier sammelte und es fein säuberlich in der Wohnung lagerte. Bei einer Heizungserneuerung kam der Vermieter, das erste Mal seit langem, wieder in die Wohnung und war entsetzt. Der Betreuer sollte sich sofort um dieses Chaos kümmern. Dieser erwiderte, dass weder eine Eigen- noch eine Fremdgefährdung vorliege und der Mensch ein Recht habe, so zu leben. Solange es keine Essensreste sind, die verderben und Tiere anlocken würden. Der Vermieter ließ nicht locker und beauftragte einen Statiker, welcher überprüfen sollte, ob die Wohnung im dritten Stock dem zusätzlichen Gewicht des Papieres Stand halten würde. Und leider bekam der Vermieter Recht! Was also tun?
An diesem Punkt unterbreche ich einmal den Fall, da die Zuhörer nun aufgefordert wurden, sich zu überlegen, was man tun könne… hier nur ein kleiner Auszug aus dem Sammelsurium:
– einfach die Hälfte wegschmeißen und mit dem Mieter besprechen, dann klappt das mit der Statik
– Umzug in die erste Etage, dann hat man das Statikproblem auch nicht mehr
– Therapie, das kann ja so nicht weiter gehen
– Warum sammelt man denn so viel Papier? Plastik wäre leichter, vielleicht kann er umschwenken. Und so weiter…
Allen diesen Ansätzen war eines gemein: Sie hätten diesen Menschen geändert, beschnitten und nicht so gelassen wie er war. Der Betreuer hat etwas anderes gemacht. Er hat für den Klienten einen Container gemietet – ähnlich einer Garage mit Schloss und allem Drum und Dran. Er hat die Wohnung zusammen mit dem Mieter zum Großteil räumen können und der Betroffene hat noch über die Hälfte des Containers Platz zum weiteren Sammeln. Somit musste er sich weder von seinen „Schätzen“ trennen noch seine Wohnung verlassen.
Oftmals hindern uns nur die äußeren Umstände (oder die Meinung anderer) daran, so zu sein, wie wir sind…
In einem anderen Fall berichtet die ehemalige Stationsleitung davon, wie sie mit der „Vermüllung“ umgegangen sei, da ja schon allein die Statuten des Wohnheimes einen äußerst strikten Rahmen zum dortigen Miteinander-Leben vorgeben. Sie sagte, wenn ich in das Zimmer des Klienten kam und ich fragte ihn nach einem Kugelschreiber oder etwas ähnlichem, und dieser Klient mir hinter all den Bergen einen reichen konnte, war dies seine organisierte Welt. Konnte der Klient nichts mehr finden, dann musste aufgeräumt werden.
Ich fand es total faszinierend, dass man sogar in einem solchen festen Rahmen die Möglichkeit haben konnte oder zumindest der Versuch unternommen wurde, den Klienten so zu lassen, wie er war. Besser/anders geht immer.
Dieser Fall handelt von einem Betroffenen, der dauerhaft Stimmen hört und verbal ziemlich ausfallend geworden ist. Er war launisch und laut und lebte seit fast 20 Jahren in der Psychiatrie auf der Langzeitstation. Eines Tages sagte er, wie aus heiterem Himmel, dass er in eine eigene Wohnung ziehen möchte. Nach vielen Gesprächen zwischen der Klinikleitung und dem Personal haben sie dem Wunsch zugestimmt und begleiteten ihn nach „draußen“. Sie hatten sogar ein Wohnmobil angemietet, was vor der Wohnung parkte, um im Notfall eingreifen zu können. Die Nachbarn wurden informiert. Eine ältere Dame wurde bezahlt, damit sie ihm Mittagessen mitkocht, was sie auch tat, allerdings mit den Worten: „ Aber in meine Wohnung kommt der nicht!“. Was auch für alle Parteien in Ordnung war.
Die Wochen vergingen und es passierte nichts! Er hat die Wohnung nicht in Brand gesetzt. Er hat sich versorgen können. Er war immer noch laut und merkwürdig, aber es schien für alle in Ordnung zu sein, dass er so ist, wie er ist. Das Personal schaffte nach drei Monaten das Wohnmobil ab und ließ alles so weiterlaufen.
Sechs Monate später. Der Kontakt zur Nachbarin ist beständig und gut. Der Klient darf seit drei Monaten in die Wohnung und isst dort mit der Dame zusammen zu Mittag. Eines Nachmittags war der damalige Oberarzt bei Rewe einkaufen. Der Laden befand sich in der Nähe der Wohnung des Klienten. Der Arzt stand schon an der Kasse, als der Klient hereinkam und laut herum polterte. Der Arzt duckte sich ein wenig weg, weil er nicht gesehen werden wollte und die Kassiererin schnappte sich sofort das Telefon und rief den Filialleiter an, mit den Worten: „Er ist wieder da!“. Der Arzt machte sich sofort wieder gerade, um einer eventuellen Eskalation entgegenzuwirken. Da kam auch schon der Filialleiter im Anzug und Krawatte. Er ging straffen Schrittes zu dem Klienten und harkte sich bei ihm unter, mit den Worten: „Wollen wir?“. Der Arzt viel fast vom Glauben ab. Da gingen die beiden doch tatsächlich zusammen, laut krakelend, durch den Laden einkaufen. Ohne Polizeieinsatz. Ohne, dass sich die anderen Kunden beschwerten, da der Filialleiter neben ihm war. Ohne dessen Hilfe kaufte der Klient ein! Der Arzt war baff.
Beschämt war er erst, als die Kassiererin ihn ansprach und sagte: „Haben sie keine Angst, der tut niemandem etwas.“
Diesen Fall hat uns der ehemalige Oberarzt persönlich erzählt, mit dem Vermerk, dass er von diesem Fall mehr gelernt habe als aus fünf Jahren Studium!
Mir haben diese Fälle gezeigt, wie wichtig es ist, sich immer wieder auf neue Blickwinkel einzulassen.