“Früher haben wir richtig reingeschüttet”. Als Volkmar Aderhold mitten in seinem dreistündigen Vortrag diesen Satz ausspricht, lacht das Publikum sehr laut auf wie sonst nicht an diesem Nachmittag. Aderhold blickt zurück an den Anfang seiner Karriere als Psychiater und dass es damals als normal erschien, hohe Dosen Neuroleptika zu verabreichen, vielleicht aus großer Sorge um den Patienten, ganz viel machen zu wollen, verführte zur hohen Dosis. Aderhold merkte, dass er das nicht gut fand und wollte dies ändern. Die heftigen Dosierungen waren wissenschaftlich nie begründet.
Schon in den 70ern gab es Studien über die Wirkungen von Neuroleptika, Aderhold äußert Unverständnis, warum die Berufsgruppe Psychiater 30 Jahre blind durch die Gegend lief. Erst in den letzten 10 Jahren sei ein wissenschaftlicher Diskurs entstanden. Anmerkung aus dem Publikum: “Könnte an den Mechanismen der Pharmaindustrie gelegen haben, die den Status Quo weiterfahren wollte”. So scheint ihm eine Trendwende momentan schwer möglich, weil die Herdenführer der Psychiater Fehler einräumen müssten.
Psychose
In einer akuten Psychose wird in einem Teil des Gehirns, Streifenkern genannt, vermehrt der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet. Das Gehirn gilt als komplexes Gebilde und allein im Streifenkern soll es mehr Synapsen geben als Sterne im Universum. Synapsen sind Schaltstellen und der Austausch läuft über Neurotransmitter wie das erwähnte Dopamin. In einer akuten Pychose steigt die postsynaptische Dopaminbesetzung von 9 auf 16%. Das ist kein drastischer Anstieg, hat aber erhebliche Auswirkungen. Die erhöhte Dopamin-Ausschüttung ist nicht die Ursache, sondern das Ergebnis einer Psychose. Wo sie im Gehirn genau ausgelöst wird, ist noch unklar.
Es wird vermutet, dass selbst für Schizophrenien etwa 60 Gene verantwortlich sein könnten. Hierzu Aderhold, nicht die Gene seien das Problem, sondern negative Erfahrungen.
50% der Psychotiker leiden an Traumata, Ursachen sind Misshandlungen und sexueller Missbrauch, emotionaler Missbrauch sowie Armut, soziale Notlagen oder auch Schikane in der Schule. Solche negativen Erfahrungen erzeugen Vulnerabilität (hier Hochsensibilität).
Neuroleptika verhindern nicht die erhöhte Dopamin-Ausschüttung, sondern blockieren die Rezeptoren, dies ist ein indirekter Mechanismus, so wirken Neuroleptika nicht heilsam und dadurch entstehen Probleme. Es wird mit Mitteln gearbeitet, die bestimmte Hirnregionen schwächen, den Fettstoffwechsel stören (Dyslipidämie), Gefäßerkrankungen verstärken, und bei Polypharmazie eine erhöhte Gefahr, an Diabetes und Adipositas (Übergewicht) zu erkranken.
Überdosierung
Im Streifenkern: Hochintensive Dopamin-Rezeptoren verdoppeln sich und verdreifachen ihre Intensität, werden immer sensibler und leichter reizbar. Dies wird beeinflusst durch die Dosis: Je höher man mit der Dosis geht, desto mehr passiert. Der Körper wehrt sich gegen den Fremdstoff, die Wirksamkeit lässt nach und wird die Dosis wieder erhöht, steigt die Gefahr einer weiteren Psychose. Reaktion aus dem Publikum: “Die Biologie (Körper) wehrt sich gegen die Chemie (Medikament)”. Durch immer höhere Dosierungen entsteht mehr Toleranzentwicklung und weiter steigende Hypersensibilität. Die Reaktion schon auf geringe Belastung wird größer, die Patienten kommen dann häufiger in die Klinik. Die Intervalle (Abstände) zur nächsten Psychose werden kürzer. Folgende Psychosen sind stärker als die vorherigen.
Es sollte gelten: Maximal drei Monate mit dem Medikament behandeln, tritt keine Wirkung ein, das Medikament sein lassen. Eine Wirksamkeit erst nach drei Monaten wäre ein Wunder. Eventuell ein anderes Medikament wählen, aber mehrere gleichzeitig vermeiden, denn so Aderhold: Für Polypharmazie gäbe es keine wissenschaftliche Evidenz, früh zu komponieren sei deshalb unsinnig.
Eine effektive Dosierung liegt im Bereich von 50 – 65% Blockade der D2-Rezeptoren. Von Patient zu Patient kann sich diese wirksame Dosis jedoch bis zu zehnfach unterscheiden, also muss sie für jeden Patienten erst gefunden werden. Studien zufolge, treten bei Überschreitungen des Schwellenwertes, Nebenwirkungen auf, wie Bewegungsstörungen, kognitive Beeinträchtigungen, Missstimmung und depressive Symptome, spätestens dann sollte die Dosierung überprüft werden.
Nikotin hemmt die Wirkung von Neuroleptika, eine Überdosierung treibt den Raucher zum MehrRauchen. Meldung aus dem Publikum: “Das wäre wie im Auto gleichzeitig Gas und Bremse zu treten, man sieht vielleicht nichts am Auto, aber der Motor ist schrott”.
Bei Behandlung mit Neuroleptika auf Gewichtszunahme achten. Wenn in drei Wochen eine Gewichtszunahme von zwei Kilogramm und mehr, dann umdenken, auch wegen Gefahr von Diabetes. Außerdem Blutdruck messen.
Absetzen von Neuroleptika
Das Credo: “Medikamente machen nicht abhängig”, sei fatal, so Aderhold. Es gehe um Substanzen, die das Gehirn verändern. Wenn der Arzt sagt, Medikamente machen nicht abhängig, könnte der Patient denken, er könne sie einfach weglassen. Doch das wäre fatal, denn der kürzeste Weg in die nächste Psychose sei, schnell abzusetzen. Will man raus aus der Medikation, langsam absetzen, alle 6 Wochen um 10% reduzieren.
Ist man bei minimaler Dosis angelangt, will das Absetzen wohlüberlegt sein, denn nun ist das Absetzen auch ein Risiko, weil bei Rückfall der vorherige Nutzen verloren wäre.
Nach dem Absetzen beginnt die Phase der Vulnerabilität (hier Hochsensibilität). Bei Experimenten mit Ratten wurde festgestellt: Die Rückbildung der Rezeptoren dauerte 6 – 8 Wochen, auf den Mensch übertragen mehr als ein Jahr, vielleicht gar drei. In der Phase kommt es zu Schlaflosigkeit und psychotischen Phänomenen, bedingt durch den Entzug. Schlaflosigkeit ist ein Stressfaktor und kann wieder eine Psychose auslösen.
Eine Restdosis kann daher eine Hilfe sein, nimmt den Schrecken und befähigt zum Arbeiten. Ratschlag von Aderhold: Medikamente nur noch alle 2 Tage, dann alle 3 Tage nehmen.
Als Patient sollte man sich vorher klar werden, wofür setzt man ab, was geht man dann an. Hat man Zeit für den Beginn? Wie sieht es mit dem Umfeld aus, mit Unterstützung?
Begleitete Absetzversuche sind risikoärmer, rät Aderhold. Der Arzt kann beraten, entscheiden sollte der Patient.
Dieser Vortrag von drei Stunden war für jemanden wie mich, der nicht beruflich oder behandelt mit Antipsychotika zu tun hatte, kein leichtes Unterfangen. Alleine schon, die einzelnen Medikamente auseinanderzuhalten bzw. einzuordnen, war schwierig für mich. Dazu wissenschaftliche Aspekte wie Botenstoffe und Abläufe im Gehirn, die aber meine Aufmerksamkeit weckten.
Einprägsam für mich war, dass Aderhold immer wieder appellierte, wie wichtig ein behutsamer Umgang mit starken Medikamenten sei. Von Vorteil war auch das mitzunehmende “Handout”, in dem man die vielfältigen Studienergebnisse detailliert nochmal nachlesen kann. Ein fundierter Vortrag, der die Dringlichkeit des umsichtigen Handelns mit Neuroleptika, denn darauf lag diesmal der Fokus, noch einmal deutlich machte.