Autor:in: Dirk Wahlers

Jörg M. Fegert: 
„Anerkennung psychischer Traumafolgen“ Rezension

0 Kommentare

Im Geleitwort berichtet Christine Bergmann als „Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen sexuellen Missbrauchs“ von den Schwierigkeiten der Anerkennung von Traumafolgen bei Opfern sexualisierter Gewalt und dem Leid der Betroffenen durch immer noch anhaltende Tabuisierung des Themas.
Jörg Fegert erkennt „eine systematische Stigmatisierung Betroffener“ (S. 13) bei allen Opfern von Traumafolgen. Sein Buch ist kein wissenschaftlicher Text sondern nähert sich dem Thema in Form von chronologisch aufeinander aufbauenden Essays an. Sein Ausgangspunkt ist individuell und durchaus überraschend:
Im Ulmer Münster steht seit 1934 auf einem Querbalken unter der Orgel eine St. Michaelsfigur als Kriegerdenkmal. Mit erhobenem Schwert in blutrünstiger Pose mahnt er eher an die Wehrhaftigkeit Deutschlands, denn an die Kriegsopfer. Dies ist ein Ausdruck des deutschen Militarismus, der schließlich in den zweiten Weltkrieg mündete. Ursprünglich war der Michael mit gesenktem Schwert und zu Boden blickend in Trauerpose geplant gewesen.
Nach einer Debatte um die Frage, wie mit dieser Figur umzugehen sei, kam es zur Übereinkunft, sie nicht zu entfernen, sondern jeden Michaelistag eine Vortragsveranstaltung stattfinden zu lassen, auf der die Figur und ihr Zweck thematisiert werden. Autor Fegert hielt diesen Vortrag im Jahre 2021. Das vorliegende Buch ist seine thematische Vertiefung dieses Vortrags.
Fegert beschreibt den Umgang mit den Kriegsopfern des ersten Weltkrieges, denen dieses Denkmal ja gewidmet ist. Im ersten Weltkrieg starben fast 10 Millionen deutsche Soldaten. 1,5 Millionen überlebten den Krieg als „Invaliden“. In der Republik wurde ein relativ fortschrittliches Entschädigungsrecht eingeführt, in dessen Zentrum laut Fegert die Teilhabe an Arbeit und die gesellschaftliche Reintegration standen. Er lenkt den Blick dann auf die Traumatisierten, die als „Kriegszitterer“ oder „Schüttelneurotiker“ bezeichnet wurden.
Diesen seelisch versehrten Kriegsopfern schlug umgehend Misstrauen entgegen. Sie wurden als Simulanten abgestempelt, einige mit Elektroschocks „regelrecht gefoltert“ (S. 70). Fegert bezieht sich auf die Medizinhistorikerin Maria Hermes-Wladarsch, die betont, „das nach der geltenden psychiatrischen Lehrmeinung in Deutschland Kriegserlebnisse und die invalidierenden Erkrankungen kausal nicht zusammenhingen“ (S. 70). Die Betroffenen galten eher als „weich, schwach, gar hysterisch“ (S. 71).
Ab 1934 wurden seelische Erkrankungen grundsätzlich nicht mehr als Kriegsfolgen anerkannt. Im Rahmen der Krankenmorde durch das NS-Regime wurden 5000 im Ersten Weltkrieg traumatisierte Soldaten systematisch ermordet.
Fegert wendet sich nun der Nachkriegszeit zu. Das 1953 in Kraft getretene „Bundesergänzungsgesetz“ sprach Opfern des Nationalsozialismus das Recht auf Entschädigung zu. Aber das Gesetz war so ausgelegt, dass Opfergruppen von vorneherein ausgeschlossen waren. Die Geschädigten wurden nicht als Antragsberechtigte sondern als Bittstellende behandelt. Hinzu kamen bürokratische Schwernisse. Erst nach sechsmonatiger Haft in einem KZ kann von einer Schädigung ausgegangen werden, die dann gegebenenfalls entschädigt würde, besagte eine sogenannte „Rechtsvermutung“. Kürzere KZ-Aufenthalte erscheinen so zumutbar. Fegert weist nach, dass schwer traumatisierte Menschen systematisch des Simulantentums verdächtigt wurden.
Die nächste traumatisierte Gruppe der sich Fegert zuwendet sind die Betroffenen von sogenanntem „sexuellen Missbrauch“. Auch hier deckt er wieder systematische Zweifel an den Aussagen der Betroffenen auf. Er gibt Beispiele für die verbreitete Lehrmeinung der „Lügenhaftigkeit“ (S. 95) von Kindern durch angesehene Psychologen des 20. Jahrhunderts. Auch galten Aussagen von Frauen mindestens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weniger, als die von Männern. Fegert skizziert die Entwicklung der „Aussagepsychologie“ in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, die sehr viel differenzierter vorgeht.
Da der Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ einen Grundpfeiler unseres Rechtssystems bildet, ist es grundsätzlich zulässig und auch notwendig im Strafrecht Beschuldigungen anzuzweifeln. Fegert sieht aber den Umgang mit den Betroffenen als immer noch problematisch und diskriminierend an.
Anhand verschiedener Statistiken und Befragungen versucht Fegert die ungemeine Häufigkeit von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zu belegen. Er kommt zu dem Schluss, dass über 10 Prozent der deutschen Bevölkerung in der Kindheit von sexualisierter Gewalt betroffen waren (S. 110). Er kritisiert den Umgang mit dem Thema. Zur Illustration werden zerstörte Teddybären und Puppen verwendet. In Ausdrücken wie „Seelenmord“ oder „für ein Leben geschädigt“ erkennt er stigmatisierende Zuschreibungen (S.117).
Dann kommt der heutige Umgang mit Aussagen von Betroffenen zur Sprache. Hier erschwert die erwähnte Unschuldsvermutung die Aufklärung der Taten. Wenn Aussage gegen Aussage steht, werden Verdächtige freigesprochen. Bei Straftaten im digitalen Raum sieht es anders aus, hier gibt es harte Beweismittel. Fegert beklagt, dass die Erkenntnisse der Traumaforschung kaum Eingang in die Prozesse finden (S.125).
Um Mittel nach dem Opferentschädigungsgesetz oder des „Fonds Sexueller Missbrauch“ zu beantragen sind hohe bürokratische Hürden zu überwinden. Die Bearbeitungszeiten sind lang. Für Betroffene ist dies oft schwer auszuhalten, da ihre Glaubwürdigkeit angezweifelt wird und sie sich wiederum als Bittsteller behandelt fühlen. Die Betroffenen ringen um „Anerkennung des Unrechts, das ihnen angetan wurde“ (S. 139), durch die betreffenden Institutionen.
Fegert ist kein Historiker. Das merkt man dem Text gerade im ersten Teil auch an. Die Stärken der Essays liegen in dem Blickwinkel, den er einnimmt. Er lässt immer wieder Historiker:innen Philosoph:innen und Schriftsteller:innen zu Wort kommen, um seine Ausführungen zu untermauern und zu illustrieren. In der Beschreibung der Gegenwart ist der Autor ein unbestrittener Fachmann. Er beleuchtet kompetent und einfühlsam die Probleme vor denen Betroffene stehen. In seiner konsequenten Parteinahme für die Opfer argumentiert er jedoch zuweilen einseitig und kann das Grundproblem wie schütze ich Betroffene und gleichzeitig, möglicherweise zu Unrecht Beschuldigte nicht auflösen.
Das Buch ist mit vielen Illustrationen versehen. Hier handelt es sich zum großen Teil um reproduzierte Zeitungsartikel, die durch Qualität und die starke Verkleinerung vollkommen unleserlich sind. Hier hätte man sich auf weniger und dafür erkennbare Quellen beschränken sollen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert