Autor:in: Mariona

Lebensgeschichte

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Ich bin in einem recht kultivierten aber wohl offensichtlich auch kriegstraumatisierten Elternhaus aufgewachsen. Mein Vater war mit seinen Eltern und zwei Brüdern aus Schlesien geflohen, was er meinem Bruder und mir Zeit seines Lebens verschwieg. Vielleicht aus Scham auch zu diesen sogenannten „Habenichtsen“ zu gehören.
Erst bei seiner Beerdigung 2006 erfuhr ich von seiner Herkunft. Auch meine Mutter floh damals als Kind mit ihrer Schwester und den Eltern vor dem Einmarsch der Russen von Ostdeutschland über den Westen nach Bremen. Diese Kriegserfahrungen und den Verlust der geliebten Heimat überschatteten offenbar das ganze Familienleben. Mein Vater arbeitete dann als Buchhalter bei Borgward, wo er die Tochter des Abteilungsleiters – meine Mutter – kennenlernte und heiratete. Nach meiner Berechnung musste meine Mutter da bereits mit mir schwanger gewesen sein, weshalb diese Eheschließung vielleicht unumgänglich gewesen sein könnte. Erwünscht und erwartet war dann wohl doch eher ein Sohn! Nach sechs Jahren kam dann der ersehnte „Stammhalter“ und ich war endgültig abgeschrieben. Meine Eltern führten meinem Empfinden nach eine freudlose und lieblose Ehe. Gesprochen wurde nur über das Notwendigste. Meine Mutter erlebte ich oft nörgelig und unzufrieden. Besuch kam eher selten. Es herrschte ein strenges Regiment. Widerworte oder gar eine eigene Meinung waren unerwünscht und wurden auch schon mal mit einer Tracht Prügel geahndet. Und so lernte ich schnell: Klappe halten war der sicherste Garant, um ohne Blessuren über den Tag zu kommen. Die fehlende Kommunikation holte ich dann in der Schule mit meinen Klassenkamerad:innen nach und so stand in einem meiner Zeugnisse dann auch schon mal: „Mariona stört den Unterricht durch Schwatzen.“ Auch beim Essen machte meine Mutter gerne Unterschiede. Während sie meinem Bruder Jenie seine Lieblingsspeisen zubereitete – z. B. Nudeln, Pizza, Fischstäbchen – musste ich mich zeitgleich manchmal tagelang mit dünner Suppe abfinden. Was wiederum zur Folge hatte, dass ich immer weiter abmagerte. Meine Eltern gaben mir immer das Gefühl, dass ich nichts kann und nichts wert bin. Oft beneidete ich meine Freundinnen um ihr liebevolles und herzliches Zuhause. Mit diesem Minderwertigkeitsgefühl wuchs ich dann als schüchternes Kind heran. Und diese starke Schüchternheit mündete dann in eine Angststörung. Mit 14 Jahren hatte ich bereits eine ausgeprägte Sozialphobie, ohne zu ahnen, was denn eigentlich mit mir nicht stimmt. Kino- und Restaurantbesuche, Veranstaltungen und Zusammenkünfte waren für mich undenkbar. Ständige Panikattacken bestimmten mein Leben. Mit 16 Jahren wurden die häuslichen Zustände, Erniedrigungen und Drangsalierungen so unerträglich für mich, dass ich einen kläglichen Versuch startete, mit der abgeschraubten viel zu stumpfen Klinge meines Spitzers diesem ganzen Elend ein Ende zu setzen. Was dann auch misslang, dem Vater meiner besten Schulfreundin aber nicht verborgen blieb. Und so prasselte ein Riesen- donnerwetter auf mich hernieder – ich sei ja wohl verrückt geworden. In zwei Jahren bin ich 18, dann könne ich doch ausziehen, so lange würde ich ja wohl noch durchhalten.
Nach meiner Lehre als Bekleidungsfertigerin war es dann endlich soweit. Ohne Abschied und meine Adresse zu hinterlassen, war ich weg. Und dieses unendliche Freiheitsgefühl der ersten Tage, Wochen und Monate – losgelöst von allen Qualen und Zwängen – kann ich noch heute deutlich nachempfinden. Doch die Sozialphobie blieb und florierte weiter. Ich begegnete anderen oft mit Misstrauen, Komplimente konnte ich gar nicht annehmen. Mein Arbeitsweg per Bahn zu meinem Arbeitsplatz bei „Harms am Wall“ – wo ich derzeit als Gardinennäherin arbeitete – wurde zum Höllentrip. Die 40 Minuten Fahrzeit hielt ich nur selten durch, da ich aufgrund der Panikattacken mindestens 1-2 Mal unterwegs aussteigen musste. Der Kripobeamte, mit dem ich mit 22 Jahren kurzzeitig liiert war und dem ich diese Symptome schilderte meinte, dies ist eine Erkrankung die durchaus behandelbar sei. Ich solle doch mal einen entsprechenden Arzt „Psychiater“ aufsuchen. Doch durch die viel zu starken Tabletten, die mir dann ein solcher Arzt verschrieb, war ich völlig neben der Spur. Die Aufmerksamkeit an der Nähmaschine ließ deutlich nach und so setzte ich diese nach wenigen Monaten wieder ab und verzichtete auf weitere Arztbesuche. Mit meinem neuen Freund kamen nun Alternativen in Betracht: Autokino statt Kinosaal, Imbiss statt Restaurant, Camping statt Hotelurlaub. Nach Harms fing ich mit 24 Jahren als Musteranfertigerin in einem Textilgroßhandel für Fenstermode an, wo ich dann auch 15 Jahre blieb. Ein Glücksfall für mich, denn dort musste ich mich mit ca. 25 Kollegen auseinandersetzen, was sich auf mich wie eine Konfrontationstherapie auswirkte. Zwar anfänglich noch mit Unterstützung von „Baldrian extra stark“ machte ich durch positive Feedbacks Fortschritte und so peu à peu stieg dann auch mein Selbstbewusstsein. Erst bei meinem zweiten Versuch – mit 39 Jahren – mich einem Psychiater anzuvertrauen, bekam die mir bis dahin immer noch unbekannte Angststörung einen Namen: Sozialphobie. 2012 kam ich aufgrund von Stress mit einem Nachbarn für einige Wochen im Rückzugshaus in der Helgolander Straße unter und zu meinem eigenen Erstaunen stellte ich fest, dass sich die typischen Symptome bei Beisammensein mit bis zu 15 Personen dort unmerklich deutlich abgemildert haben und ich sogar den Mut fand, vor allen zu sprechen.
Ich kann inzwischen mit Fug und Recht behaupten, dass ich durch positive Lebenserfahrungen der letzten 40 Jahre einen Entwicklungsprozess durchlaufen habe und sich somit auch meine ganze Persönlichkeit verändert hat. Ich bin nicht mehr die panikgeplagte, verschüchterte und verstörte Person, die ich damals war. Auch wenn sich diese Erkrankung nicht ganz ausmerzen lässt, so habe ich doch gelernt, damit zu leben. Diese Erfahrung führt wieder einmal zu der Erkenntnis, dass, wenn man sich nicht resigniert in sein Schneckenhaus zurückzieht, sondern sich seinen Dämonen stellt und bereit ist, an sich zu arbeiten, das Leben auch mit einer psychischen Erkrankung durchaus erträglich und lebenswert sein kann.

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