Autor:in: Christian Winterstein

Nabelbruch

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Vor drei Monaten teilte ein Facharzt für Chirurgie Herrn Winter mit: „Der Nabelbruch ist zu groß. Den operiere ich in meiner Praxis nicht. Der muss in der Klinik operiert werden. Dort versorgt man Sie ein paar Tage stationär.“ Einen Tag vor der OP sagte ihm der Chirurg in der Klinik: „Herr Winter, Sie bleiben eine Nacht bei uns.“ Nach der OP, Herr Winter hatte kaum seinen Pfefferminztee getrunken und die Butterkekse gegessen, drückte ihm die junge Assistenzärztin den Arztbrief in die Hand.

„Sie können jetzt nach Hause.“ „Ich dachte, ich bleibe noch eine Nacht?“ „Der Nabelbruch hat sich nicht als so groß herausgestellt wie vor der OP angenommen. … Haben Sie jemanden, der Sie zu Hause versorgt?“ „Nein.“ „Freundin?“ „Nein.“ „Freund? Nachbar?“ „Nein.“ „Mutter?“ „Die ist vor Kurzem verstorben.“ „Entschuldigung, das war jetzt pietätlos.“ „Nun“, überlegte Herr Winter, der nicht weiter ausgefragt werden wollte und zugleich merkte, dass er gehen sollte, „ich habe jemand, den ich anrufen kann.“ Habe ich wirklich jemand? fragte er sich. „Okay, alles Gute für Sie“, verabschiedete sich die Assistenzärztin. Fehlte nur noch, sie hätte mich nach einem Haustier gefragt, dachte Herr Winter, während die Krankenschwester ihm die Schuhe zuband, da er sich wegen der frisch operierten Wunde nicht bücken konnte. Ihrem zweifelnden Gesichtsausdruck nach zu urteilen, dachte er, ist sie sich wohl auch nicht sicher, ob es richtig ist, ihn jetzt wegzuschicken.
Unten in der Empfangshalle, in der ein großes Schriftbanner hing mit der Aufschrift „Ihre Gesundheit liegt uns am Herzen!“, kam Unmut in Herrn Winter hoch: Die Verabredung war, dass ich eine Nacht bleiben soll! „Wo kann ich mich beschweren?“, fragte er den Mitarbeiter in der Info-Zentrale. Der zeigte auf einen Briefkasten an der Wand, auf dem „Lob & Kritik“ stand und gab Herrn Winter Stift und Zettel: Geld verdient … Risiko … meine soziale Situation … fühle mich rausgeworfen … Nach einer Weile fragte der Mitarbeiter: „Was schreiben Sie denn da alles?“ „Im Prinzip hören Sie das jeden Abend in der Tagesschau, sobald Karl Lauterbach seinen Auftritt hat“, antwortete Herr Winter. Der Mitarbeiter nickte und winkte ab.
Draußen vor der Klinik standen Taxis. Dafür war Herr Winter zu geizig. Wenn schon Opfer, dann richtig, dachte er grimmig und ging, noch etwas benebelt, langsamen Schrittes die anderthalb Kilometer vom Krankenhaus zu seiner Wohnung. An einer Fußgängerampel fuhr ihn fast ein Rettungswagen über. Mit Blaulicht und wütendem Martinshorn wollte er eine Abkürzung nehmen, um auf die Gegenfahrbahn zu gelangen. Normalerweise gibt es für so etwas 200 Euro Bußgeld und drei Punkte in Flensburg, dachte Herr Winter. Aber die Leute glotzten nicht den Fahrer, sondern ihn blöd an.

Zu Hause begrüßte ihn Kermit der Frosch mit seinem Dauergrinsen, ein Relikt eines Freimarktbesuches vor 20 Jahren. Damals war ich noch mit Bettina zusammen, seufzte

Herr Winter und legte sich ins Bett. Dort hielt er Kermit fest in seinen Armen und begann zu weinen.

Montags ging Herr Winter zu seiner Hausärztin. „Frau Müller, kommen Sie mal“, rief sie ihre Sprechstundenhilfe ins Behandlungszimmer. „Haben Sie so etwas schon mal gesehen?“ Der Pflasterverband, der über Herrn Winters Wunde gelegt war, war durchtränkt mit Blut.

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