Autor:in: Christian Kaschkow

Psychiatrie 2.0

Gut ein Vierteljahr nach der letzten Veranstaltung Psychiatrie 2.0 fand sie wieder statt, diesmal im Bürgerhaus Vegesack, 16. November 2016, mit ca. 100 Anwesenden.

Nach einleitenden Worten des Psychiatriekoordinators der Stadt Bremen, Jörg Utschakowski, ging Sozialsenatorin Quante-Brandt ans Rednerpult. Sie erläuterte die Schwerpunkte zur Umwandlung der psychiatrischen Versorgung in naher Zukunft, nämlich die Wandlung der stationären Versorgung hin zu mehr ambulanten Angeboten, bessere Vernetzung der Anbieter, mehr sektorübergreifende Behandlung, mehr Mittel für Modellvorhaben, ferner die Einstellung von Genesungsbegleitern, die Wiederaufnahme des Krisentelefons und die Beteiligung von Psychiatrie-Erfahrenen und Angehörigen.

Herr Knieß von der INI (Initiative zur sozialen Rehabilitation) und als Koordinator des Gesamtpsychiatrieverbundes Bremen-West, sprach über vernetzte Versorgung und die Möglichkeiten zur Ausschöpfung personenzentrierter Versorgung, auch um Überversorgung zu vermeiden.

Über die SektorÜbergreifendeBehandlung (SÜB), sprachen danach Herr Rust vom ASB, Herr Reimer vom Krankenhaus Bremen-Ost und Herr Thiede von der Gapsy. Die SektorÜbergreifendeBehandlung soll stationäre und ambulante Behandlung verbinden und eine Behandlung im gewohnten Lebensumfeld ermöglichen (Home-Treatment). Anschließend äußerte sich Dr. Bührig vom Behandlungszentrum Nord zum Home-Treatment und sah darin die positive Möglichkeit, um die Entwurzelung der Klienten zu stoppen, in dem diese nicht mehr in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht werden, es sei denn, es bestünde akute Fremd- oder Selbstgefährdung, Suchtproblematik o.ä..

Darauf informierte Dr. Eikmeier vom Klinikum Reinkenheide in Bremerhaven über das Modell MobilePsychiatrie (MoPsy), das in Workshops des Bremerhaven-Tetralogs (Tetralog: Vier-Parteien-Gespräch) entwickelt wurde. Nach anfänglichen Schwierigkeiten steuerrechtlicher Art und aufgrund organisatorischer Gründe ist es nun auf dem Weg.

Es folgte die erste Diskussionsrunde: Frau Sabine Weber gab zu bedenken, dass es hilfreich wäre, wenn Betreuer den Patienten deren Innenleben erklären könnten. Herr Jürgen Busch mahnte, die Helfer müssten mit mehr Empathie betreuen und nicht nur Fälle abarbeiten. Hierauf Dr. Bührig: Würde man die Strukturen ändern, änderten sich die Beziehungen Helfer-Patient. Empathiefähigkeit sei nur schwer zu erlernen, auch wegen der Strukturen. Herr Rust meinte, man solle nicht einfach Bettenabbau proklamieren, und nicht erst planen und dann die Entwicklung verfolgen, sondern im bestehenden System verändern. Herr Reimer fügte an, man solle erst ambulante Strukturen erweitern und dann Betten abbauen.

Nach der Pause wurde der zweite Teil eingeleitet von den Herren Thiede und Utschakowski mit einer Statistikpräsentation. Aus dieser ging hervor, dass im Bundesland Bremen die durchschnittlich höchste Bettenbelegung aller Bundesländer bestehe, aber auch die geringste Verweildauer. Zudem die höchste Quote bei Zwangseinweisungen.

Neue Projekte für das nächste Jahr sollen sein: Die Einstellung von Genesungsbegleitern, Coaching der Betreuer und Organisationen, Psychiatrieverbünde in den Gemeinden und Krisenangebote wie Nachtcafes.

Die weiteren Ziele: Verhinderung von Chronifizierungen der Betreuten durch frühzeitige Unterstützung und Behandlung, Lösungen vor Ort durch das soziale Umfeld, konsequente ambulante Behandlung, Verringerung von Zwangseinweisungen, die Entlastung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehörigen, Erhaltung der Patientenautonomie, also mehr Selbstbestimmung und Eigenständigkeit sowie Salutogenese statt Chronifizierung. In Zukunft sollen Netzwerke in den Quartieren aufgebaut werden, durch mehr EDV gestützte Vernetzung der Träger und Einrichtungen.

Zum Thema Zukunftsaufgaben forderte Prof. Dr. Gonther (Leiter der Ameos-Klinik): Weniger Zwangseinweisungen und auswärtige Unterbringung, weniger Medikamente, vor allem gäbe es zuviel Polypharmazie, die ,wissenschaftlich nicht gedeckt, Patienten abhängig mache, diese würden nicht gesünder und zehn Jahre früher sterben. Er verwies noch darauf, dass Suchtkranke in den Psychiatrien die größte Gruppe wären, also mehr Suchthilfe eingeplant werden müsste.

Dann trat Herr Bechtold vom DGSP an das Pult. Er mahnte die Senatorin, trotz positiver Entwicklung in den letzten 20 Jahren, den Auftrag durch den Bürgerschaftsbeschluss von 2013, bis Ende des Jahrzehnts zu erfüllen, z.B. seien spezialisierte Stationen ein Widerspruch zum Bürgerschaftsbeschluss genau wie weniger Personal durch Quersubventionen.

Von der INI kamen danach Herr Marburg und Frau Tobias auf das Podium und sprachen aus der Sicht der Betroffenen. Herr Marburg plädierte im Hinblick auf den Bürgerschaftsbeschluss von 2013 für mehr Beteiligung der Betroffenen und Angehörigen. Gerade die Angehörigen bräuchten mehr Hilfe für das Leben mit den Betroffenen. Zudem warb Herr Marburg für den Verbraucherschutz in der psychiatrischen Versorgung. Frau Tobias als Betroffene erwähnte sehr eindringlich die Probleme der Betreuten mit den Strukturen und wünschte hierfür einen aktiveren Zugang der Betreuer zu den Klienten. Sie erwähnte auch die Probleme der Betroffenen mit den Medikamenten, die ihnen das Denken nehme, und sie fragte auch, warum Klienten, die Gewalt erfahren haben, mit Gewalt behandelt werden, und was nach deren Entlassung geschehe, wenn sie eventuell ohne Betreuung blieben. Deshalb forderte sie die Einrichtung einer Unabhängigen Fürsorge und Beschwerdestelle (UFB). Diese würde für mehr Handlungsmöglichkeiten und Rechte sorgen, Missverständnissen vorbeugen und den üblichen Rechtsweg vermeiden. Durch diese Erleichterung und Entlastung würde Geld eingespart für sonst notwendige Anforderungen. Allerdings ist die Finanzierung der UFB bis heute nicht in Sicht. Für die Drei-Jahres-Finanzierung fehlen 130.000 Euro.

Anschließend referierte Frau Mertesacker von der Universität Bremen über Qualitätsmanagement und die methodischen Anforderungen daran. Das Qualitätsmanagement fürs Bundesland Bremen wird jetzt entwickelt und orientiert sich an den Kriterien: Individuelle Bedarfe und Erwartungen der Patienten, der Strukturqualität und dem Personal vor Ort, der Vernetzung in der Sektorübergreifenden Behandlung, und Prozessqualität mit Augenmerk auf Kontinuität in der Bedarfsorientierung, den Ressourcen und der Lebenswelt der Klienten.

Dann kam es zur abschließenden Diskussion. Jürgen Busch bezog sich gleich auf den letzten Vortrag und mahnte an, dass zuviel über Strukturen geredet werde, Empathie beim Betreuungspersonal aber viel wichtiger sei.

Sabine Weber fragte Herrn Reimer nach der Situation im Krankenhaus Bremen-Ost, worauf dieser antwortete, es gäbe Überbelegung und auch Probleme durch die bauliche Struktur, es sei zu beengt, daher sei der Umbau geplant, durch den dann mehr Ambulanz möglich wäre, und auch die Empathie beim Personal würde in den Fokus rücken. Darauf sagte Klaus Pramann (Psychiater und Mitbegründer der Blauen Karawane): Empathie, Medikamente und die Frage “Ambulant statt stationär” seien eine Sache. In früheren Zeiten, nach seinem Berufseinstieg, wäre Empathie ein Fremdwort gewesen, es gab keine Nähe zu den Patienten, seitens des Personals wurde nur auf Funktion geachtet. Doch es gab den Paradigmenwechsel durch die Auflösung des Kloster Blankenburg.

 

Es ist Bewegung in der Bremer Psychiatriepolitik. Aktuell angestoßen durch Crisendienst Campagne, Landesverband Psychiatrie-Erfahrener, Patientenfürsprecher, einer neuen Gruppe psychiatriekritischer Bremer, über Jahre von den ambulant Tätigen in zahlreichen Gremien gefordert, beflügelt durch den neuen Psychiatriereferenten Bremens und aufgegriffen durch engagierte Journalisten des WeserKuriers und der taz (und ein wenig auch des Zwielicht) gibt es reichlich Diskussionen, Papiere, Veranstaltungen und erste Taten. Modellprojekte wie das nächtliche Krisentelefon, das Nachtcafé, Einstellung von Genesungsbegleitern sowie das Home-Treatment als gemeinsame Initiative von Klinik, ASB und Gapsy. Neue Stellen in Bremen-Ost soll es geben, verbesserte  Beschwerdemöglichkeiten und weitere Ambulantisierungen. Das Zwielicht wird all dieses im Rahmen seiner Möglichkeiten begleiten und darüber berichten.