Autor:in: Thomas Sieghold

Warum der Störungsbegriff der Schizophrenie abgeschafft werden sollte

Was ist überhaupt eine Schizophrenie als aktuelle medizinische Diagnose?

„Die schizophrenen Störungen sind im Allgemeinen durch grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmung sowie inadäquate oder verflachte Affekte gekennzeichnet. Die Bewusstseinsklarheit und intellektuellen Fähigkeiten sind in der Regel nicht beeinträchtigt, obwohl sich im Laufe der Zeit gewisse kognitive Defizite entwickeln können. Die wichtigsten psychopathologischen Phänomene sind Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung oder Gedankenentzug, Gedankenausbreitung, Wahnwahrnehmung, Kontrollwahn, Beeinflussungswahn oder das Gefühl des Gemachten, Stimmen, die in der dritten Person den Patienten kommentieren oder über ihn sprechen, Denkstörungen und Negativsymptome.“

Zitat aus dem ICD 10 (Das ist das diagnostische Handbuch, nach dem die medizinische Diagnose in Deutschland im Regelfall gestellt wird.)

Vereinfacht ausgedrückt: Halluzinationen, paranoider Wahn, das sogenannte „Stimmenhören“, Denkstörungen und mit Negativsymptomen sind z.B. Konzentrationsschwierigkeiten, motorische Schwierigkeiten, fehlender Antrieb etc. gemeint.

Die Symptome müssen darüber hinaus mindestens einen Monat bestehen, damit die Diagnose gestellt werden darf.

„Es gibt kein klar definiertes Krankheitsbild, nur verschiedene psychotische Symptome, die sich in Schweregrad und Dauer unterscheiden. Mit anderen Worten: Es handelt sich um ein Spektrum mit einem Mix von Symptomen, der bei jedem Menschen anders ausfällt.“

(Jim van Os, Psychiater und Epidemiologe von der Universität Utrecht)

Diese Herangehensweise verursacht in der Diagnostik leider zwei Probleme:

  1. Problem: Mit der Diagnose geht eine Prognose einher. Dadurch, dass die Symptome bereits mindestens einen Monat bestehen müssen, lässt die Diagnose den Zustand als fest und chronisch erscheinen, was er nicht zwangsläufig sein muss. Getreu dem Motto: Das ist so und das bleibt auch so.
  2. Problem: Der Begriff wirft eine ganze Reihe von Symptomen, die stark variieren können, in einen Topf, obwohl diese bei jedem Betroffenen völlig anders aussehen können. Es gibt also nicht den „Muster-Schizophrenen“.

Diese beiden Probleme werden dadurch untermauert, dass in der klassischen Medizin Schizophrenie zum Teil als erbliche und chronische Hirnkrankheit gesehen wird, obwohl es dafür keine medizinischen Beweise gibt.

Diese Darstellung der Störung kann zu Ausgrenzung führen. Im schlimmsten Fall wird jemand mit dieser Diagnose als unheilbar krank, bedürftig, als Mensch „zweiter Klasse“ wahrgenommen, was die Depressionsgefahr deutlich erhöhen kann.

In Japan wurde die Diagnose der festen, chronischen Schizophrenie abgeschafft, da dort Ausgrenzungen noch größere Auswirkungen haben und dort die Diagnose Schizophrenie als indirekte Aufforderung zum Suizid gewertet wurde, da Betroffene als nicht mehr leistungs- und integrierfähig für die Gesellschaft eingestuft wurden.

Jim van Os schlägt als Ersatz für den Begriff „Schizophrenie“ vor, psychotische Symptome zu einem Spektrum zusammenzuführen, weil man die oben genannten Probleme damit mindern könne.

Meiner persönlichen Meinung nach wäre ein Spektrum erheblich passender, da der Begriff Schizophrenie im medizinischen wie auch Allgemeinverständnis viel zu negativ behaftet ist. Dazu kommt noch, dass in Film und Fernsehen die Schizophrenie mit der Dissoziativen Identitätsstörung (im Volksmund bekannt als multiple Persönlichkeitsstörung) häufig verwechselt wird, obwohl diese Diagnosen grundsätzlich nicht verwandt sind. Im Bereich der Schizophrenie gibt es darüber hinaus noch weitere Unterteilungen, z.B. die paranoide, hebephrene, katatone Schizophrenie oder die Schizophrenia Simplex. Spätestens da ist ein Punkt erreicht, wo die Abgrenzung von Symptomen schwammig wird.

Die vielen Symptome zu einem Spektrum zusammenzufassen wäre daher  schlichtweg praktischer und weniger negativ behaftet für Betroffene.

(Reaktion auf den Artikel „Schizophrenie gibt es nicht” von Wim Swimmen, Spektrum, Ausgabe 46/2019)

 

Glossar:
Dissoziative Identitätsstörung (multiple Persönlichkeitsstörung): Störungsbild, bei dem sich die betroffene Person in verschiedene Identitäten aufspaltet, die zum Teil unabhängig voneinander die Persönlichkeit „steuern“. Es ist dabei anzumerken, dass der Begriff „multiple Persönlichkeitsstörung“ veraltet ist und medizinisch nicht mehr verwendet wird.

Paranoide Schizophrenie: Unterform der Schizophrenie, bei der paranoide Anteile (Wahnvorstellungen, Halluzinationen) das Störungsbild überwiegen.

Hebephrene Schizophrenie: Unterform der Schizophrenie, bei der Veränderungen des Gefühls- und Gemütslebens im Vordergrund stehen. Wahnvorstellungen und Halluzinationen kommen nur bruchstückhaft vor.

Katatone Schizophrenie: In dieser Unterform stehen psychomotorische Probleme im Vordergrund, auch Wahnvorstellungen und Halluzinationen können vorkommen.

Schizophrenia Simplex: Ist geprägt von der Negativsymptomatik. Tritt auf ohne Halluzinationen, Wahnvorstellungen.

Symptome: Ein Symptom ist ein typisches Merkmal einer Krankheit oder Störung.

Spektrum: Ein Begriff für vielfältige Zustände, die mehr oder weniger ineinander übergehen.

Psychotisch: Ein Zustand oder Verhalten, bei dem es den Anschein macht, dass die betroffene Person zumindest zum Teil den Bezug zur Realität verliert.

Chronisch: lange andauernd bzw. gar nicht mehr aufhörend

Inadäquat: unangebracht, unpassend zur Situation (hier im Bezug auf das Verhalten)

Intellektuell: geistig, im Sinne von Verstand

ICD 10: englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Deutsche Kurzform: Internationale Klassifikation der Krankheiten

Kognitive Defizite: Beeinträchtigung der Denkleistung

Psychopathologie: Lehre von den Leiden der Seele. Wissenschaftliche Disziplin, die zur Psychiatrie und zur klinischen Psychologie gehört.

Paranoider Wahn: Falsche Vorstellungen der Wirklichkeit, die nicht/kaum korrigierbar sind und sich auf das Gefühl des verfolgt werden beziehen.

Motorische Schwierigkeiten: Schwierigkeiten in der Durchführung von einzelnen Bewegungen und Bewegungsabläufen.

Epidemiologe: Wissenschaftler, der Ursachen und den Verlauf von Krankheiten/Störungen erforscht.