Sie kennen es doch sicher, wenn man sich einen Ohrwurm eingefangen hat und ständig ein Lied vor sich hinsummt oder im Gedanken nachsingt. Oder wer hat nicht schon mal in Gedanken jemandem, auf den man sehr wütend ist, die Pest an den Hals gewünscht? Ob Ohrwurm oder Rachegedanken, sie verschwinden bei normalen Menschen nach einer erträglichen Zeit wieder. Was wäre aber, wenn sie Ihnen Stunden oder Tage im Kopf schwirren. Eine Woche, einen Monat ein Vierteljahr? Ihre Konzentration beeinflussen, Sie bei der Arbeit belasten, sich eine ständige Nervosität breit macht? Warum sollte das passieren, Sie denken einfach nicht mehr daran und fertig.
Es gibt aber Menschen, die Gedankenkreisläufe nicht so einfach durchbrechen können. Diese Menschen leiden unter einer Form der Zwangeserkrankung, den Zwangsgedanken, die mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können. Die Betroffenen empfinden die Gedanken als über-trieben und sinnlos, können Ihnen aber willentlich nichts entgegensetzen. Ich habe eine Beschreibung gehört, die es sehr gut trifft; „mentaler Schluckauf“.
Der Inhalt der Zwangsgedanken ist fast immer unsinnig, erschreckend, angsteinflößend und ekelerregend. Sie drehen sich zum Beispiel darum, man könne geliebten Menschen Gewalt antun. Auch die Idee, wenn man bestimmte Rituale nicht einhält, könne einem selbst oder nahestehenden Menschen etwas passieren, sind verbreitet. Meist sind Zwangsgedanken eng mit der Sorge verbunden, ein Tabu zu brechen, sich unentschuldbar zu verhalten, anderen oder sich selbst zu schaden oder eine Sünde zu begehen. Die Einen sind von der Furcht besessen, sie könnten obszöne Gedanken äußern oder jemanden beleidigen. Andere haben Angst, jemandem mit dem Auto anzufahren, anderweitig zu verletzen oder gar zu töten. Wieder Andere werden von sexuellen Zwangsgedanken geplagt und fürchten, sie könnten ihre Mitmenschen sexuell belästigen oder „perversen“ Impulsen nachgeben. Verbreitet sind auch Zwangs-gedanken, die um Gesundheit und Hygiene kreisen: Die übertriebene Angst vor Bakterien und Schmutz, aber auch vor Umweltgiften, Strahlen sowie extremer Ekel vor Körperausscheidungen. Wen religiöse Zwangsgedanken plagen, der befasst sich exzessiv mit Begriffen von Moral und Sünde oder hat Angst davor, Gott zu lästern.
In den Betroffenen braut sich eine stetig steigende Anspannung zusammen, die zu Zittern, Schweißausbrüchen und Angstzuständen führen kann. Erleichterung bringt dann meistens nur noch eines: das Ritual. Bei dem Einen kann ein Ritual daraus bestehen, an jedem Dienstag und Donnerstag keinen roten Pullover zu tragen oder z.B. bei beunruhigenden Zwangsgedanken, an beruhigende und positive Gegengedanken zu denken. Zum Einem ist das ein Spiel ohne Ende und zum anderen erhalten gerade diese Rituale die Gedanken aufrecht. Beim nächsten Kontakt mit dem Auslöser der Zwangshandlung – beispielsweise Schmutz – beginnt das böse Spiel aufs Neue. Dem Zwang nicht nachzugeben, kostet dem Kranken ungeheure Kraft und führt häufig zu einer totalen Erschöpfung. Sie führen ein Leben in der Endlosschleife.
In gewisser Weise profitiert der Betroffene sogar von seiner Krankheit: Da er seine ganze Energie den Zwängen widmet, muss er sich mit den wahren Problemen des Lebens nicht auseinandersetzen, oder er erhält eine vermeintliche Sicherheit. Auch negative Gefühle wie Niedergeschlagenheit und Depressionen werden übertüncht. Das erschwert es zusätzlich, auf das Ritual zu verzichten. Dies darf man aber nicht als Standardursache verstehen, da hinter der Erkrankung stehende Ursachen, oder deren sich nur erschließende Zweck, von Fall zu Fall verschieden sind.
Das Fatale an einer Zwangserkrankung: Das Wissen um die Sinnlosigkeit ihres Tun oder Denkens hilft den Kranken nicht. Appelle wohlmeinender Mitmenschen an den gesunden Menschenverstand, oder das sinnlose Denken einfach zu beenden, sind wohl gut gemeint, aber zu einfach gedacht, machen Sie den Betroffenen aber eher hilflos bis wütend. Eine Diskussion auf dieser Grundlage ist zum Scheitern verurteilt, da es für Nicht-Betroffene kaum, bis gar nicht nachvollziehbar ist, dass man durch diese Erkrankung festsitzende Gedankengänge oder Handlungen nicht beenden kann. Oft wurde mir diesbezüglich auch einfach mangelnder Wille unterstellt, bis hin „man fühle sich wohl in seiner Erkrankung“ oder suche Beachtung! Letztendlich wird jedes Widerwort zu diesen „gutgemeinten“ Standard-Ratschlägen als Abwehr verstanden, weshalb Betroffene es vermeiden auch nur ansatzweise über diese Erkrankung zu sprechen!
Mögen die Gedanken auch noch so extrem abgelehnt werden, so denkt der Betroffene, da Sie von Einem selbst kommen, müsse ja etwas dran sein. Würde man diese letzte Hürde nehmen, würden die Gedanken verschwinden, da Sie vom Betroffenen nicht mehr Ernst genommen würden. Denn letztendlich macht die falsche Bewertung des Gedankens den Gedankenkreislauf aus.
Als Ursache für diese Erkrankung kommen verschiedene Faktoren zusammen. Zum Einen kommen genetische Gründe, sprich Veranlagung dazu. Als eine der Hauptursachen erscheinen neurologische Gründe wie sich ein anders verhaltender Hirnstoffwechsel. So kommt die Erkrankung häufiger bei Menschen mit Selbstzweifeln und fehlendem Durchsetzungsvermögen vor. Oft sind die Betroffenen auch sehr gründliche Menschen.
Ebenso spielen die Erfahrungen in der Kindheit eine Rolle. Wenn ein Mensch als Kind hohe Anforderungen an Leistung, Perfektion oder Sauberkeit erfüllen muss und für Fehler nur Kritik und Vorwürfe zu hören bekommt, kann er als Erwachsener sehr verunsichert sein. Der Betroffene kann dann das gesamte Leben für gefährlich halten und misstraut den Menschen. In einer Krise, z.B. ausgelöst durch Überforderung, Tod eines nahen Angehörigen oder Trennung des Partners, neigt er dann dazu, sich gegen alle möglichen Gefahren absichern zu wollen. Die Ordnung und Sicherheit, die er in der Welt vermisst, versucht er durch Rituale und starre Handlungsabläufe zu schaffen. Ist der Zwang erst einmal entstanden, bleibt er von selbst weiter bestehen. Hinter Zwängen stecken als Ursache in der Regel Ängste. Die Betroffenen entwickeln einen Zwang, weil sie dadurch bestimmte Ängste, etwa die Angst, zu versagen oder die Angst, kritisiert zu werden, kontrollieren können. Indem sie alles mehrmals zwänglich kontrollieren, hoffen sie unbewusst, alles perfekt und richtig zu machen und so ihren Mitmenschen keinen Anlass zu Kritik zu geben. Die Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen ist so groß, als ginge es um Leben und Tod.
Entscheidungsschwierigkeiten sind typisch für zwanghafte Menschen. Um das Gefühl zu haben, überhaupt eine Entscheidung treffen zu können, benötigen sie viel mehr Informationen als andere. Sie sind deshalb so unentschlossen, weil sie ständig große Angst vor negativen Folgen haben. Gegen eine Zwangsstörung können zur Therapie Medikamente zum Einsatz kommen, um die gestörten Hirnfunktionen positiv zu beeinflussen. Hier sei nur kurz erwähnt, dass sich Medikamente die den Serotoninhaushalt regeln als erfolgreich erwiesen haben. Die Therapie gilt dann als erfolgreich, wenn Sie sich subjektiv fähig fühlen, die Symptome Ihrer Zwangsstörung zu kontrollieren und einem geregelten Tagesablauf nachgehen können.
Gerade Menschen in psychischen Ausnahmesituationen sind grundsätzlich anfälliger für Krankheiten. Dies gilt besonders bei den Zwangsgedanken. Das in solchen Situationen schwache Selbstbewusstsein und die in der Regel fehlende Tagesstruktur führen zu einer Verstärkung der Zwangssymptomatik.
Die noch stärker vertretenen Zwangshandlungen (gehörend zu der Gruppe der Zwangserkrankungen) sind noch häufiger vertreten als die Zwangsgedanken. Betroffene Personen führen ständig einfache Handlungen des Lebens mehrfach gar hundertfach aus. Hierbei handelt es sich häufig um Kontrollen, wie das Ausschalten des Herdes oder das Verschließen der Tür ständig zu kontrollieren. Eine noch häufig vorkommende Form sind die Reinigungszwänge. Betroffene waschen sich z.B. so häufig die Hände, dass sie dadurch sogar Hautprobleme bekommen. Dem Zwang nicht nachzugeben, führt auch hier zu extremsten Anspannungen und körperlichen Reaktionen.
Über den Sinn der Zwangsgedanken und -handlungen hier zu schreiben, würde den Rahmen sprengen. Letztendlich ist es an dem Erkrankten dies mit Hilfe therapeutischer Begleitung langsam zu erkennen, was dann auch eher den Weg für eine erfolgreiche Behandlung ebnet. Mittlerweile gibt es auch speziell für diese Erkrankung orientierte Ärzte sowie Kliniken und Therapieangebote. Auch stehen Medikamente zur Verfügung, die über die Jahre gezeigt haben, dieses Leiden zu lindern. Bisher hat sich die Verhaltenstherapie in Verbindung mit medikamenteller Unterstützung als erfolgreich gezeigt. Über die Heilungschancen gibt es sehr unterschiedliche Aussagen. Wenn die Wahrheit in der Mitte liegt, kann der überwiegende Teil der Erkrankten einen Zustand erreichen, in dem er wieder ein normales Leben führen kann.