Autor:in: Joachim Götz

Gleichung mit Unbekannten

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Wenn ich über den Titel unserer kommenden Ausgabe: “Wer wir sind“ nachdenke, dann ist einer der ersten unterschwelligen Gedanken, den ich in der Lage bin zu greifen und an die Oberfläche zu bringen: “Du musst doch wissen wer Du bist“ oder „Was ist das für ein Mensch, der nicht weiß wer er ist?!“ Und in der Tiefe öffnet sich eine Tür, und eine Stimme raunt mir zu: „Du solltest gar nicht das sein was Du jetzt bist. Du müsstest doch schon längst ganz woanders stehen. Und schau Dir mal die anderen an!“ Und die Gefühle, welche daraus entstehen, und die im nächsten Schritt wichtig sind zu benennen: Versagen, Minderwertigkeitsempfindungen, Bedrohung, Ängste, Überforderung, Zweifel, Depression. Gefolgt von einer unendlichen tiefen Müdigkeit.

Wenn man gefragt wird, wer man sei, antwortet man meist, indem man seinen Namen mitteilt. Man sagt etwa: Mein Name ist Joachim. Oder aber: Ich BIN der Joachim. Letzteres, heißt es immer, sei besser, da man eindrücklicher verkündet, wer man sei, und nicht nur seinen Namen sagt. Nicht nur sagt, dass man von den Menschen so genannt wird. Wer nur seinen Namen sagt, könnte Zweifel daran haben, ob er wirklich der Joachim ist. DER Joachim, dieser eine.

Nun ist es aber so, dass ich tatsächlich Zweifel habe, ob ich der Joachim bin. Zum einen ist mir bewusst, dass ich wohl für jede und jeden ein anderer Joachim bin. Weil jeder Mensch eine andere Wahrnehmung hat, und weil ich schrecklich dazu neige, mich bei verschiedenen Leuten unterschiedlich zu verhalten.

An diesem Punkt müsste wohl jede Therapie ansetzen und hinterfragen, zu was es wichtig ist, für welche Art Joachim mich die Leute halten. Und warum ich es nötig habe, mich bei unterschiedlichen Leuten unterschiedlich zu verhalten, ja sogar mich selbst zu verleugnen.

Zum anderen, wenn man mich fragen würde, was diesen Joachim ausmacht, käme ich in Verlegenheit, weil ich so gar nichts finde, was ich mein Eigen nennen könnte, was mir und nur mir gehört, woran ich erkennen könnte, dass ich es bin. Meine Persönlichkeit besteht einfach aus zu vielen teils gegensätzlichen Schichten, die ich je nach Notwendigkeit auslebe. Wer ich ursprünglich einmal gewesen war, das ist viel zu tief begraben. Möglicherweise hat nicht jede und jeder die Erfahrung gemacht, dass man schon in seiner Kindheit je nach Situation sein Selbst aufgeben musste, um der Unerträglichkeit einer Existenz zu entgehen.

Im Laufe vieler Jahre kam ich zu der Erkenntnis, dass alles, auch das schlechte, dazu beigetragen hat, dass ich jetzt so bin wie ich bin. Und so eigenartig es sich jetzt vielleicht anhören mag, aber ich bin sogar froh darüber, dass ich durch manches tiefe Tal gehen musste. Ich weiß die guten Zeiten zu schätzen. Ich kann ehrliche Empathie empfinden für Menschen, denen es genauso ergeht. Und alle anderen sehen genau das, und genau das ist gut so.

Deshalb sag ich hier in aller Deutlichkeit, dass es für mich kein Zeichen von besonderer Intelligenz ist, sich hinzustellen und zu sagen: Ich bin DIE oder Ich bin DER. Es müsste heißen:“ Meine Eltern gaben mir diesen oder jenen Namen, aber ich bin ein Mensch, der an jedem neuen Tag noch im Werden begriffen ist.

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