Am 04. Mai 2016 fand eine Tagung im Speicher XI, Nr. 4, Blaue Karawane, zum Thema „Die Bremer Sozialpsychiatrie: Barrieren überwinden“ statt.
Auf der Einladung ist eine Einleitung zu lesen, die ich in Auszügen wiedergeben möchte:
“…Das Motto der „Aktion Mensch“ für den Protesttag zur Gleichstellung der Menschen mit Beeinträchtigungen heißt dieses Jahr „Einfach für alle! Gemeinsam für eine barrierefreie Stadt!“ und die Verleihung des Preises der Stiftung für Soziale Psychiatrie für das BlauHaus-Projekt der Blauen Karawane sind Anlässe, um einen kritischen Blick auf die einst hoch gelobte Bremer Reformpsychiatrie zu werfen. …”
Weiter heißt es dort…..
“… waren auch in den letzten 36 Jahren die fest institutionalisierten Versorgungsstrukturen die Barrieren, die eine Umwandlung einer stationären, krankenhauszentrierten in eine ambulante, lebensfeldorientierte Psychiatrie verhinderten. …”
“… Menschen mit schweren akuten oder chronischen Erkrankungen werden dabei nicht berücksichtigt. Die Folge: Eine Zweiklassenpsychiatrie wird weiter zementiert. …”
Des Weiteren steht dort zu lesen….
“… Heutzutage beklagen verantwortliche Gesundheitspolitiker_innen und Psychiatrieprofis selbst die „Orientierung am Krankenhausbett“. Schon lange wissen wir, dass sich psychische Probleme und Krankheiten von Menschen und sie selbst in der häuslichen Umgebung ganz anders darstellen als in einer Krankenhausstation.
Wie kommen wir weg von der „Bettenpsychiatrie“ zum „Home Treatment“, zur ambulanten Behandlung von Menschen in ihrem Lebensumfeld?
Wir freuen uns auf interessante Beiträge und eine lebhafte Diskussion. …”
Das macht mich neugierig auf die Veranstaltung, insbesondere auf die Beiträge der doch auch namhaften Redner….
Angekündigt ist Frau Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie) mit ihrem Vortrag „36 Jahre Psychiatriereform in Bremen“. Sie hat kurzfristig absagen müssen, da sie in ihrer Funktion als Stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen zu einem Staatsakt geladen ist.
Somit tritt als erster Redner Herr Dr. Martin Bührig (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Leitender Arzt des psychiatrischen Behandlungszentrums am Klinikum Bremen-Nord) mit seinem Thema „Linien der Bremer Sozialpsychiatrie“ ans Mikrofon.
Er erläutert, dass er seinen Vortrag mit der Überschrift ‘Die Blaue Karawane’ zusammenfassen möchte und erklärt, was die Blaue Karawane ist und wie sie entstanden ist. Seiner Meinung nach steht das Blaue Kamel als Sinnbild für die psychiatrische Arbeit,
…die einen persönlichen, personenzentrierten Ansatz braucht, um auch eine existenzielle Verbundenheit herstellen zu können und müssen.
…den Menschen in Krisen zu betreuen.
…ihn als ganzen Menschen zu betrachten.
…den individuellen Weg eines Menschen im Auge zu behalten.
Dr. Bührig macht sehr deutich, dass die biografische Arbeit eines Menschen viel zu sehr vernachlässigt wird. Er versucht in unterschiedlichsten Wortlauten zu erklären, wie wichtig es sei, den psychisch kranken Menschen in seiner ganzen Persönlichkeit zu sehen und wahrzunehmen. Er möchte die Menschen/Patienten verstehen und stellt fest, dass er dabei an seine Grenzen stößt – sich überfordert fühlt.
Als nächstes spricht Herr Ulrich Wesseloh (Fachbereichsleiter der Gesellschaft für Ambulante Psychiatrische Dienste GmbH – GAPSY – Bremen) über „Ambulant statt stationär“.
Seine Sichtweise über ambulante Arbeit stellt er so dar:
Am „grünen Tisch“ sei noch alles in Ordnung, aber im Praktischen seien Kooperationen zwischen Kliniken und ambulantem Bereich ‘gruselig’, weil direkte Kontakte/Absprachen nicht oder kaum möglich seien.
Klienten sollte ein würdiges eigen-ständiges Leben im gewohnten Um-feld ermöglicht werden, damit die Menschen im physischen, psychisch-en und sozialem Gleichgewicht bleiben können.
Die Finanzen seien schlecht, weil die Gelder falsch verteilt würden.
In Kliniken sollten konsequent Betten abgebaut werden, damit mehr finan-zielle und personelle Ressourcen frei würden.
Herr Wesseloh verweist immer wieder auf den Artikel/Aufsatz, von Herr Dr. Klaus Pramann mit dem Titel „Sozialpsychiatrie auf dem Holzweg – am Beispiel Bremen“ der im Heft ‘sozialpsychiatrische infor-mation’ (Ausgabe 2/2016) erschienen ist.
Er erzählt ein wenig über die „Geschichte“ der GAPSY und wie notwendig ambulante Hilfen sind, stellt aber auch klar, dass die klinische Psychiatrie nicht komplett aufgegeben, aber seiner Meinung nach wenigstens um 50% reduziert werden könne.
Er geht kurz darauf ein, wie ihn sein beruflicher Weg zur GAPSY geführt hat und sagt, dass er schließlich sehr beeindruckt gewesen ist, wie klar und sicher die Klienten waren und sind. Sorgen hat er sich darüber gemacht, dass die Klienten im ambulanten Bereich aggressiv und gewalttätig sein könnten.
Heute weiß er, dass schwere Krisen ambulant regulierbar seien, dass Menschen in ihrem Umfeld genesen könnten, dass Menschen wesentlich weniger aggressiv seien, als er es in seiner Klinikzeit erfahren habe.
Herr Wesseloh ist davon überzeugt, dass mehr Werbung für ambulante Strukturen nötig sei, um mehr Menschen zu erreichen und natürlich auch um irgendwann mehr Mittel zur Verfügung zu haben (durch Anerkennung der Politik und aller Kassen in allen Bereichen). Wichtig ist ihm, gemeinsame Beratungs- und Unterstützungsangebote zu erarbeiten und die Menschen, die betroffen sind, mit einzubeziehen – und betonte nochmal – sich unbedingt dieser Ressource (Betroffener) zu bedienen.
Nach einer kurzen Pause geht es dann mit dem Vortrag „Von der Bettenorientierung zum Regionalen Budget“ gehalten von Dr. Matthias Heißler (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Chefarzt der Psychiatrie im Johanniter-Krankenhaus in Geesthacht) weiter. Herr Dr. Heißler erzählt sehr unterhaltsam, dass er nach einem anstrengenden Tag und einer langen Autofahrt völlig erschöpft ins Bett gefallen und ins Träumen gekommen sei. Er erzählt ausführlich von diesem Traum, der sich im weitesten Sinne um die Umverteilung der Mittel und die Reform in der Psychiatrie dreht. Sein Fazit aus diesem Traum:
„Mit Träumen beginnt die Realität!“.
Dr. Heißler legt eine Studie vor, in der die Anzahl der Klinikaufenthalte seit der Ambulantisierung der Geesthachter Psychiatrie deutlich zurück gegangen sei. Die Verweildauer läge bei ca. 7 Tagen. Die Wiederaufnahmequote sei seit 14 Jahren immer nahezu gleich bei 30%, im letzten Jahr sei sie auf 25% gesunken – bundesweit läge die Quote bei 40 – 60%.
Den letzten Vortrag mit dem Titel „Den Sozialraum nutzen – Macht Quartiere!“ hält Herr Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner (emer. Universitätsprofessor, ehem. Leiter der Westfälischen Klinik in Gütersloh für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie, Sozialpsychiater, Hamburg).
Er erzählt, dass es nicht schwer gewesen sei, den diesjährigen Preisträger zu ermitteln. Es wäre der ideale Schritt zum rechten Zeitpunkt. Bremen hätte leise im Hintergrund gewirkt, sodass man geglaubt habe, man sei zurück zu mehr Klinikbetten gegangen statt die ambulante Orientierung weiter zu verfolgen – aber dem wäre/sei nicht so… und erstmalig entstünde ein neues „Quartier“ mit inklusiven Elementen! Eine neue Kultur für alle, egal welche Diagnose dahinter stünde.
Herr Prof. Dörner betont nochmals, dass Profis allein nichts bringen würden, sondern es wichtig sei, im Kontext mit dem nachbarschaftlichen und sozialen Umfeld zu arbeiten. Ein miteinander Leben, Arbeiten und Wohnen!!
Frau Prof. Dr. Annelie Keil, die sehr souverän und kurzweilig durch die Veranstaltung geführt hatte, scheint jetzt kurz ratlos darüber, wie es nun weitergehen sollte. Laut Programm ist eine 30-minütige Diskussionsrunde geplant. Weil es sich so schnell nicht klärt, stellt sie folgende Frage in den Raum „Wie lernt eine Stadt wirklich und wann erkennt sie, dass so Entwicklungsmöglichkeiten entstehen?“. Sie glaubt, dass die Vernetzer sich gegenseitig aufhalten!
Frau Prof. Keil ist unter Anderem sehr aktiv in der Hospizbewegung und stellt fest, dass man dort mit den (Ver)änderungen schon viel weiter sei. Ebenso sähe es in den Bereichen der Demenz und Alzheimer-Erkrankung aus. Die Akzeptanz in der Bevölkerung für diese Bereiche sei sehr hoch und diese wären mittlerweile von größerer/höherer Bedeutung bei den Menschen, Ärzten, Kassen etc als die psychische Erkrankung.
Sie verrät uns ihren Lieblingsspruch: Snoopy und Charlie Brown sitzen meditativ an einem See. Da sagt Charlie: „Someday we will all die.“. Snoopy erwidert: „True, but on all the other days, we will not.“
Nach langem Hin und Her sollen wohl doch Fragen gestellt werden dürfen. Diese Chance ergreifen zwei Gäste….. leider gibt es keine Antworten. Stattdessen ergreift Herr Dr. Dörner wieder das Wort und referiert, aber so wirklich hört ihm keiner mehr zu. Offenbar ist eine Diskussionsrunde nicht erwünscht, obwohl diese angekündigt (siehe Einleitung) wurde.
Zu guter Letzt hält Frau Dr. Charlotte Köttgen (Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie Hamburg, ehem. Leiterin des Jugendpsychiatrischen Dienstes Hamburg) die Laudatio auf das BlauHaus-Projekt.
Sie betont, dass nicht nur das Projekt, sondern auch Herr Dr. Pramann prämiert werden würde. Der Preis ist auch für sein Lebenswerk, seine Querköpfigkeit und Sturheit.
Sie erzählt aus seinem Leben, aus seinen Anfängen in Schleswig-Holstein als ‘aufmüpfiger’ Arzt und wie sich sein weiterer Berufsweg gestaltet hat.
Zur Preisverleihung kommen dann unter großem Applaus an die 30 Personen, die am Projekt beteiligt sind und waren, auf die Bühne. Herr Dr. Pramann bedankt sich für die gutgemeinten Reden und den Preis.
Der offizielle Teil ist nun beendet und laut Programm ist ein kleiner Imbiss vorgesehen. Welch Überraschung…. es ist ein phantastisches Buffet aufgebaut worden, mit vielen leckeren Köstlichkeiten, die keinen Wunsch offen lassen.
Die angekündigte Band ‘Gruuf’ konnte ich mir leider nicht mehr anhören.
Mein persönliches Fazit:
Leider sind meine Erwartungen nicht erfüllt worden. Man hat (laut Einleitung s.o.) erkannt, wo und das es hakt. Aber es gibt keine Neuerungen oder echte Erklärungen, warum es nicht voran geht.
Vermisst habe ich, dass überhaupt keine Betroffenen eingeladen worden sind, die aus ihrem persönlichen Erleben hätten berichten können. Es wäre sicherlich spannend gewesen, zu hören, ob und wie Betroffene den Fortschritt wahrnehmen oder ob es eher wieder einen Rückschritt gibt. Ebenso bedauerlich finde ich, dass es zu keinem Austausch, keiner Diskussionsrunde gekommen ist. Immer wieder ist in den Vorträgen davon gesprochen worden, dass man von den Betroffenen lernen und ihnen zuhören wolle…
Schade, gute Möglichkeiten sind vertan worden!
Einige Vorträge waren so interessant, dass man durchaus damit ein eigenständiges Programm gestalten könnte, um dann auch rege Diskussionsrunden mit einbeziehen und dadurch auch etwas in den stationären und ambulanten Alltag mitnehmen zu können. Schade!
Ist es überhaupt noch gewollt?
Mein Eindruck…:
Der Ausbau des ambulanten Bereichs in Bremen steckt fest! Wir brauchen mehr mutige, kämpferische und sture Querköpfe, die dafür sorgen, dass die Sozialpsychiatrie vorwärts geht und nicht zum ‘Rohrkrepierer’ verkommt! Ich hoffe und wünsche, dass der Ausspruch von Herrn Dr. Heißler „Mit Träumen beginnt die Realität!“ auch so gemeint ist und die Träume nicht verpuffen, sondern sich zu etwas Echtem entwickeln.
Auszüge des Artikels „Sozialpsychiatrie auf dem Holzweg – am Beispiel Bremen“
Quelle: Sozialpsychiatrische Informationen (2/2016):
Die Erwartungen an die Reform war groß. Bremen galt lange als Hochburg der sozialpsychiatrischen Reform, insbesondere durch die Auflösung des “Kloster Blankenburg” von 1981.
“Die Psychiatriereform der Achtzigerjahre hat zu einer Modernisierung geführt, die aber keinen Sprung auf eine andere Ebene der Qualität des Zusammen-lebens gemacht hat.”
“Ein Bettenabbau wurde nie wirklich angestrebt. Die Bettenzahl in der psychiatrischen Klinik Bremen-Ost wurde nur leicht reduziert. Einweisungen und Ent-lassungen haben zugenommen; die durchschnittliche Aufenthaltsdauer hat abgenommen. Somit bewegt sich die Drehtür etwas schneller.”
“Zunehmend frustrierend wirkte sich für die Teams und den Sozialpsychiatrischen Diensten/Behand-lungszentren aus, dass die ambulante Arbeit vor Ort durch zusätzliche Verwaltungsaufgaben immer mehr an den Rand geriet und dass die Zahl der Zwangs-einweisungen zunahm.”
“Chronisch psychisch kranke, psychisch kranke Behinderte, “schwierige” Klienten werden über den Stadtrand gespült und landen in kostengünstigeren Bewahreinrichtungen im nahen oder fernen Umland.
Zusammengenommen heißt das: alles zurück in die Siebzigerjahre und in die Zeit davor.”