Am 17. Oktober 1911 trafen sich der 18 Jahre alte Rudolf Ditzen (später Hans Fallada) und sein Freund Hans Dietrich von Neckar in Rudoldstadt (Thüringen) zu einem als Scheinduell getarnten Doppelselbstmordversuch. Der Schuss von Neckars verfehlt den Freund. Der kurzsichtige Ditzen trifft. Von Neckar stürzt zu Boden. Ditzen rennt zu seinem Freund, der fleht, in endlich zu töten. Ditzen feuert den tödlichen Schuss ab und richtet dann den Revolver gegen sich selbst. Mit zitternder Hand schießt er auf sein Herz – und überlebt schwer verletzt.
Rudolf Ditzen wurde am 21. Juli 1893 in Greifswald als Sohn des Landrichters Wilhelm Ditzen und seiner Frau Elisabeth geboren. Er hatte zwei ältere Schwestern, Margarete und Elisabeth, und einen jüngeren Bruder, Ulrich. Die Familie ordnete sich, wie damals üblich, der Karriere des Familienoberhauptes unter. 1899 zog sie nach Berlin, wo Wilhelm Ditzen zum Kammergerichtsrat befördert wurde. 1909 siedelte sie nach Leipzig über, wo er als Reichsgerichtsrat tätig war. Sohn Rudolf konnte sich nicht anpassen. Er galt in der Schule als störrisch und sogar beschränkt. Er kränkelte oft. Hin und wieder nahm er ein paar kräftige Schlucke aus der Essigflasche und wurde da-raufhin von seiner Mutter angesichts seines kreidebleichen Gesichts ins Bett gesteckt. Dort versank er in die Abenteuerwelten von Friedrich Gerstäcker und Karl May. Später nahm er sich den Bücherschrank seines Vaters vor, las die französischen und russischen Realisten und befasste sich mit Friedrich Nietzsche und Oscar Wilde. Literatur wurde zu seiner Leidenschaft. Berufswunsch: Schriftsteller.
Dem Doppelselbstmordversuch war ein Eklat vorausgegangen. Rudolf Ditzen war als Verfasser obszöner Briefe, in denen es um die Tochter eines Kollegen des Vaters ging, enttarnt worden. Als ihr Sohn nach dem fingierten Scheinduell wegen Mordes angeklagt war, entfuhr es der Mutter: „Gott sei Dank, wenigstens nichts Sexuelles.“ Es war die Zeit des prüden Wilhelminismus, in der Rudolf Ditzen aufwuchs. 1912 wurde er für unzurechnungsfähig erklärt und in die geschlossene Nervenheilanstalt in Tannenfeld bei Jena eingewiesen. Diagnose: „Degenerierte psychopathische Minderwertigkeit“. Adelaide Ditzen, die Schwester des Vaters, nahm sich ihres Neffen an. Als weltläufige Dame unterrichtete sie ihn in Englisch, Italienisch und Französisch. Sie leitete ihn zu literarischen Übersetzungsarbeiten an. Der Anstaltsleiter empfahl einen praktischen Beruf. Ab 1913 war Ditzen Landwirtschaftslehrling auf dem ehemaligen Rittergut Posterstein (Sachsen). Zur Freude seines Vaters meldete er sich 1914 freiwillig zum Kriegsdienst, aus dem er schon nach elf Tagen als untauglich entlassen wurde.
Zwischen 1915 und 1925 arbeitete Ditzen als Buchhalter und Kaufmann auf landwirtschaftlichen Gütern in Pommern, Mecklenburg, Westpreußen und auf Rügen. In dieser Zeit wurde er drogenabhängig. Er ließ sich in Entziehungskuren behandeln und begann die Arbeit an seinem ersten Buch, „Der junge Goedeschal“ (1920). Dieser im Stile des Expressionismus gearbeitete Pubertätsroman war für die damalige Zeit eine ungewöhnlich offene Darstellung des sexuellen Erwachens. Die Eltern Ditzens, die ihn während der Zeit, in der er an dem Roman schrieb, finanziell unterstützten, bestanden darauf, dass das Buch unter einem anderen Namen veröffentlicht wurde. Ditzen, dem die Hausmärchen der Gebrüder Grimm wohlbekannt waren, wählte als Vornamen „Hans“, in Anlehnung an den unverdrossenen „Hans im Glück“ und als Nachnamen „Fallada“, als Verweis auf den Schimmel „Falada“ aus „Die Gänsemagd“. Ebenso wie das abgeschlagene Haupt des Pferdes wollte auch Fallada, auf seine Weise, stets die Wahrheit sprechen.
Seine Drogensucht finanzierte Fallada mit Unterschlagungen. Eine erste sechsmonatige Haft saß er 1924 in Greifswald ab. 1926 trat Fallada eine zweieinhalbjährige Gefängnisstrafe in Neumünster an. Diesmal hatte er sich bei der Polizei selbst wegen Geldunterschlagungen angezeigt. Er wollte ins Gefängnis, um von seiner Drogensucht loszukommen. 1928 wurde Fallada nach Hamburg entlassen. Dort schlug er sich als mittelloser Adressenschreiber durch. Fallada suchte Hilfe beim Guttempler-Orden, einer Abstinenzlerbewegung aus den USA, die im 19. Jahrhundert über England nach Deutschland gekommen war. Dort fand er Halt und Unterstützung.
Über einen Ordensbruder lernte er die Lagerarbeiterin Anna Issel kennen, von Fallada liebevoll „Suse“ oder „Lämmchen“ genannt. Er hatte ein Zimmer in der Wohnung ihrer Mutter bezogen. Ihre allererste Begegnung fand wohl im Treppenhaus statt. In einem Augenblick verschmolzen Sympathie und Bedürfnis ineinander und wurden zur Liebe auf den ersten Blick. Im Dezember 1928 verlobten sie sich; im April 1929 heirateten sie. Fallada arbeitete zu der Zeit als Lokalreporter beim „Generalanzeiger für Neumünster“. Suse, die ihn nie mit seinem Vornamen ansprach, sondern immer mit „Junge“, richtete Fallada wieder auf. Sie gab ihm Halt. Sie gab ihm Hoffnung. Sie glaubte an ihn. Sie schenkte ihm Liebe. „Du Anfang und Du Ende, Du all mein Glück.“, schrieb Fallada. Mit Suse hatte er emotional festen Boden unter den Füßen bekommen und konnte nun sein erzählerisches Talent produktiv umsetzen. 1930 zog das Paar nach Berlin. Sohn Ulrich wurde geboren. Fallada arbeitete als Teilzeitangestellter bei Rowohlt in der Rezensionsabteilung, das heißt, er klebte Berichte und Kritiken über die Veröffentlichungen des Verlages in Mappen. Nachmittags schrieb er an dem Roman „Bauern, Bonzen und Bomben“ (1931), der auf Ereignissen um die Landvolkbewegung in Neumünster Ende der zwanziger Jahre basiert.
Ein Welterfolg wurde „Kleiner Mann – was nun?“ (1932). Dieser Roman, im Stil der Neuen Sachlichkeit geschrieben, behandelt ein Angestelltenschicksal in der Weltwirtschaftskrise. Er begründete Falladas Ruf als Volksschriftsteller. 1932 zählte man in Deutschland sechs Millionen Arbeitslose. Die Leserinnen und Leser waren entweder selbst betroffen oder kannten jemanden, der arbeitslos war. Sie konnten sich mühelos in die Handlung, Dialoge und Figuren einfühlen. Sie kannten es, knapp bei Kasse zu sein. Fallada schildert jedoch nicht nur die materielle Not, sondern auch den sozialen Ausschluss. Der Protagonist, äußerlich verwahrlost, steht vor einem Schaufenster und wird von einem Schupo (Schutzpolizisten) verscheucht: „Und plötzlich begreift Pinneberg, (…) daß er draußen ist.“ Fallada wurde berühmt und nebenbei sanierte er mit dem „Kleinen Mann“ den chronisch klammen Rowohlt-Verlag. Es war in jeder Hinsicht das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt. Unfassbar viel Geld verdiente Fallada. Seinen Erfolg begoss er nächtelang in den Bars von Berlin. Den anschließenden Kater versorgte Suse ohne Vorwurf auf ihre stille und Nachsicht übende Weise. Ihr Junge hatte ihr in der Figur des „Lämmchen“ ein literarisches Denkmal gesetzt. 1933 kaufte Fallada einen landwirtschaftlichen Hof in Carwitz bei Feldberg/Mecklenburg. Dort lebte er mit seiner Familie und schuf den Hauptteil seines Werkes. Tochter Lore, genannt „Mücke“, wurde geboren.
Nur kurze Zeit war Fallada freier Schriftsteller. Im Nationalsozialismus war kein Schriftsteller mehr frei. Die Reichsschrifttumskammer wachte über die Themenauswahl und literarische Umsetzung. Abweichungen vom Nazi-Weltbild wurden sanktioniert. Die Romane „Wer einmal aus dem Blechnapf frißt“ (1934) und „Wir hatten mal ein Kind“ (1934) wurden von der NS-Kulturpolitik abgelehnt. Dabei hatte Fallada im Vorwort vom „Blechnapf“ einen „Knicks“, wie er es nannte, vor den neuen Machthabern gemacht, indem er den humanen Strafvollzug der Weimarer Republik denunzierte. Thomas Mann fiel die merkwürdige Diskrepanz zwischen dem Vorwort und dem humanistischen Grundton der eigentlichen Geschichte des Sträflings Kufalts auf und sprach aus seinem Schweizer Exil von Feigheit des Autors vor den braunen Herren. Für Fallada kam eine Emigration nicht in Frage, auch nicht, als ihn die Reichsschrifttumskammer 1935 zum „unerwünschten Autor“ erklärte und für kurze Zeit mit Berufsverbot belegte. Ein virtuoses Werk gelang ihm mit „Wolf unter Wölfen“ (1937), ein Roman über die Inflationszeit 1923 in Deutschland. Propagandaminister Joseph Goebbels war von dem Werk angetan und fragte sich, ob Fallada dafür einen Preis oder das KZ erhalten soll. Mit dem Schluss der Geschichte „Der Eiserne Gustav“ (1938) zeigte er sich jedoch keinesfalls einverstanden. Er bestand darauf, dass die Story nicht in der Zeit der Weimarer Republik endet, sondern mit der Machtübernahme der Nazis. „Der Eiserne Gustav“, der auf der wahren Geschichte des Berliner Pferdekutschers Gustav Hartmann beruht, wurde Nazi.
Fallada, der die Nazis verachtete, notierte nach der Umarbeitung: „… Die Welt kotzte mich an, ich mich selbst aber noch mehr.“
Er verlegte sich nun auf seichte Unterhaltung, Märchen und Kinderbücher. Das Durchlavieren setzte Fallada von Anfang an zu. Er bezahlte mit Depressionen, Alkoholeskapaden und Nervenzusammenbrüchen. Er ließ sich in Sanatorien behandeln. 1940 wurde Sohn Achim geboren.
Die Krisen gingen nicht spurlos an der Ehe vorbei. Spätestens 1944 war die Beziehung zwischen Suse und ihrem Jungen am Ende. Fallada lernte die morphiumsüchtige Alkoholikerin Ursula („Ulla“) Losch in Feldberg kennen. Fallada verlor seinen Halt und kam durch Ulla wieder an Rauschgift. Die Ehe mit Suse wurde geschieden. In einem Streit mit ihr zog er betrunken einen Revolver und schoss in den Küchentisch. Angeklagt wegen Mordversuchs verbrachte er dreieinhalb Monate in der Landesheilanstalt Strelitz. Er hatte Glück und konnte die Ärzte davon überzeugen, dass er normal und nicht geistesgestört sei. Letzteres hätte in Nazi-Deutschland das Todesurteil bedeuten können. Weihnachten 1944 wurde er entlassen. Im Frühjahr 1945 heirateten Fallada und Ulla in Berlin. Dort taumelten sie am Abgrund zwischen Drogenrausch und Depression, Entzugsklinik und Nervenheilanstalt.
Doch noch einmal gelang Fallada ein „echter Fallada“ mit „Jeder stirbt für sich allein“ (posthum 1947 erschienen). Es ist der Roman über ein Arbeiterehepaar, das mit Postkarten und Flugblättern gegen das Nazi-Regime kämpft. Er beruht auf der wahren Geschichte der Berliner Widerstandskämpfer Otto und Elise Hampel. Es war die letzte schriftstellerische Produktion Falladas. Fallada starb am 5. Februar 1947 mit 53 Jahren in einem Hilfskrankenhaus in Berlin-Pankow an den Folgen seiner Alkohol- und Morphiumsucht.