Autor:in: Christian Winterstein

Bartleby der Schreiber

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Die Erzählung Bartleby, The Scrivner (Bartleby, der Schreiber) von Herman Melville (1819 – 1891) erschien 1853 in Putnam´s Monthly Magazine, einer amerikanischen Literaturzeitschrift. Der Autor von Moby-Dick schuf mit ihr eine der geheimnisvollsten Erzählungen der Weltliteratur.
Zunächst las ich sie als eine Erzählung von der Möglichkeit und Kraft des Widerstands am Beispiel eines Kanzlei-Angestellten in New York City, der hartnäckig die Ausführung der Arbeitsaufträge seines Chefs, einem Notar an der Wall-Street, ablehnt. Und in diese Richtung zielen die Lesarten: Es ginge um die Möglichkeit des Widerstands im Arbeitsalltag, um Auflehnung gegen das Diktat der Effizienz, um Widerstand gegen entfremdete Arbeit, um zivilen Ungehorsam und passiven Widerstand gegen Autorität und Herrschaft.
Meinen Fokus lege ich auf die Reaktionen und Handlungsweisen des Chefs von Bartleby, der mit der Verweigerungshaltung seines Angestellten umgehen muss.
Dieser Notar, der namenlose Ich-Erzähler, stellt Bartleby als Kopisten, also als Schreiber, in seiner Kanzlei ein, einen jungen Mann, den er äußerlich so vorstellt: sanfte Bewegungen, mageres, blasses Gesicht, graue, verhangene, ruhige Augen, ohne eine Spur innerer Bewegung.
Ohne Worte geht dieser Bartleby hinter einem Wandschirm seiner monotonen Arbeit nach, bis er sich immer öfter verweigert: Nicht trotzig, nicht laut, sondern mit ruhiger Stimme erklärt er seinem Chef, dass er es vorziehen würde, den Auftrag lieber nicht zu erledigen. Er verweigert den Abgleich von Abgeschriebenem mit den Original-Dokumenten: I would rather prefer not to. Dieses Abgleichen ist aber Mitte des 19. Jahrhunderts, als es noch keine Kopiermaschinen gab, gerade im juristischen Arbeitsfeld eine unglaublich wichtige Aufgabe.
Der Notar ist irritiert und glaubt anfangs, sich verhört zu haben. Er weiß nicht, wie er auf die sanfte, im singenden Tonfall vorgetragene Verweigerung seines Schreibers reagieren soll. Er fragt ihn nach seinen Gründen. Doch auch hier zieht Bartleby es vor, lieber nicht zu antworten. Der Notar fühlt sich von Bartleby wie vor den Kopf gestoßen, aber auch wie entwaffnet. Wäre Bartleby ihm pampig gekommen, hätte er ihn sofort gefeuert. Aber er versucht, mit Bartleby zu reden und seine Beweggründe herauszufinden.
Er beginnt, seinen Schreiber näher zu beobachten und stellt dabei fest, dass dieser sich ausschließlich von Ingwerkeksen ernährt. An einem Sonntag entdeckt er zufällig, dass Bartleby gar nicht nach Hause geht, sondern sich Tag und Nacht in der Kanzlei aufhält und sich dort in karger Häuslichkeit eingerichtet hat.
Es ist ein Wechselbad der Gefühle, die der Notar durchmacht. Er fühlt Beklemmung und hat Mitleid: Welch traurige Verlassenheit und Einsamkeit. Er spürt Wut: Was nimmt sich dieser Bartleby eigentlich heraus? In Momenten aber, in denen er laut werden und Bartleby eine Ansage machen will, geht er lieber nach Hause und findet sich mit dessen sturer Arbeitsverweigerung ab. Der Notar steht in einem Konflikt: Wie ist mit Bartleby umzugehen? Er ist sein Mitarbeiter, von dem er Arbeitsleistung einfordern darf, er ist aber auch ein Mensch, der offensichtlich der Hilfe bedarf. Nächstenliebe ist eine wichtige Handlungsrichtschnur für den Notar.
Er ist überzeugt, Bartleby leide an einem angeborenen und unheilbaren Gebrechen. Bewusst wird ihm das spätestens, als Bartleby das Arbeiten komplett einstellt und nur noch aus dem Fenster auf eine kahle Ziegelmauer starrt. Er teilt seinem Chef mit, das Abschreiben gänzlich aufgegeben zu haben. Doch zu gehen, die Kanzlei zu verlassen, fällt ihm gar nicht ein. Er bleibt einfach in der Kanzlei.
Der Notar setzt Bartleby eine Frist: Innerhalb von sechs Tagen habe er die Kanzlei zu verlassen und sich eine andere Bleibe zu suchen. Dabei würde er ihn unterstützen, ihn auszahlen und sogar was drauflegen, und falls Bartleby später mal Hilfe benötige, könne er sich jederzeit brieflich an ihn wenden; er könne sich darauf verlassen, dass er ihm helfe werde.
Die Frist verstreicht, Bartleby bewegt sich nicht vom Fleck. Er ziehe es vor, die Kanzlei nicht zu verlassen. Allmählich wird es für den Notar peinlich, und er hat Sorge, seinen guten Ruf zu verlieren: Kollegen tuscheln schon wegen des seltsamen Bartlebys. Sie missbilligen die wohlwollende, verständnisvolle Haltung des Notars.
Schlussendlich weiß dieser sich nicht anders zu helfen, als selbst zu gehen und seine Kanzlei ein paar Straßen weiter in einem anderen Bürogebäude zu verlegen. Bartleby bleibt zurück.
Auf Betreiben der Nachmieter und des Hausbesitzers wird Bartleby mit Hilfe der Polizei ins Gefängnis verbracht. Der Notar besucht ihn und bietet Bartleby auch dort seine Unterstützung an. Doch Bartleby, man sieht ihn stets vor der Gefängnismauer stehend und sie anstarrend, verweigert sich nun komplett. Er nimmt keinerlei Nahrung mehr zu sich und stirbt kurz darauf.
Dem Notar wird klar: Seinem Leib konnte ich Almosen geben; doch es war nicht sein Leib, der Schmerzen erdulden musste; es war seine Seele, die litt, und seine Seele war unerreichbar für mich.
Später hört er von einem Gerücht, dass Bartleby, bevor er in seiner Kanzlei als Schreiber anfing, in einem Amt für unzustellbare Briefe gearbeitet habe. Dort habe er diese Briefe vernichten müssen. Der Notar vermutet, dass er dabei von einer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit befallen worden sein musste, die in eine Lebensverweigerung mündete, von der er nicht mehr abzubringen war.
Die Hilfe, um die es in Bartleby, der Schreiber geht, ist die eines Begleitens und Aushaltens. Eine Gratwanderung. Aber: Sie sucht den Menschen zu verstehen. Dieser Ansatz bewahrt vor voreiliger Kritik, Maßregelung, Fallenlassen und Gleichgültigkeit. Vor allen Dingen hilft sie, Menschlichkeit in uns zu bewahren. Dies ist die Botschaft von Bartleby, der Schreiber, so wie ich sie verstehe: Menschlichkeit bewahren.

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