Autor:in: Nadine Böhme

Buchrezension zu „Unsichtbare Narben“

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Inhalt

Das Buch „Unsichtbare Narben – Erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern berichten“, herausgegeben von Johannes Jungbauer und Katharina Heitmann, beinhaltet eine vielfältige Sammlung von insgesamt zwölf Erfahrungsberichten mit unterschiedlichen psychischen Krankheiten als Hintergrund.
Wenn ein Elternteil oder sogar beide psychisch erkrankt sind, belastet das zugleich die Kindeserziehung und -entwicklung. Thematisiert werden die folgenden Krankheitsbilder: Zwangsstörung, Schizophrenie, Alkoholabhängigkeit, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Depressionen und schizoaffektive Störung. Die entstehenden prägenden Lebenserfahrungen wie mangelnde elterlicher Fürsorge, emotionale Vernachlässigung, frühe Verantwortungsübernahme, Missverständnisse, Ausgrenzung, Streit etc. können die Kinder auch noch als Erwachsene weiterhin begleiten. Mögliche Folgen zeigen sich beispielsweise in später Aufarbeitung der Geschehnisse (z.T. erst im Erwachsenenalter) oder im Bindungsverhalten, insbesondere in Partnerschaften. Einige Betroffene entwickeln sogar selbst psychische Krankheiten.
In einem Einleitungstext erklären die beiden Herausgeber:innen ihre Motivation hinter dem Werk und wie die Erfahrungsberichte durch persönliche Gespräche, aber auch durch zugeschickte Texte entstanden sind. Die porträtierten Personen sind zwischen 27 und 64 Jahre alt und die Auswahlkriterien zielen auf ein möglichst breit gefächertes Spektrum ab. Auf den letzten Seiten des Ratgebers befindet sich zudem ein „Serviceteil“, der zur Weiterbildung und Selbsthilfe dient. Aufgelistet werden weitere Erfahrungsberichte, Fachliteratur, Dokumentationen, Filme, sowie Kontaktstellen im Internet oder als Adresse.
Trotz der Verschiedenheit der persönlichen Geschichten lassen sich einige Parallelen zwischen den Problemen der erwachsenen Kinder erkennen. Ihre autobiografischen Erfahrungen können sowohl für Betroffene, Angehörige, als auch selbst Erkrankte als Bereicherung dienen.

Rezension
Ein gelungenes Selbsthilfebuch

Es ist schmerzhaft und gleichzeitig heilsam zu lesen, wieviel Stärke die Kinder beweisen mussten, um die fehlende Fürsorge auszugleichen oder wieviel Verantwortung sie auch heute noch für ihre Eltern tragen. Häufig berichten sie, eine frühe oder überhaupt eine Diagnose der Eltern hätte ihnen damals geholfen. Insbesondere die Tabuisierung psychischer Erkrankungen im Elternhaus führte dazu, das eigene Leiden auszuhalten, als „normal“ abzutun und die Probleme zu verschweigen oder gar zu verdrängen. Kinder können noch nicht einordnen, dass sie keine Schuld an den Reaktionen tragen und reagieren demnach überfordert. Sie fühlen sich ohnmächtig und suchen die Schuld zunächst bei sich selbst, weil sie noch nicht kennen, was ihnen geschieht. Es ist daher umso befreiender für die Erwachsenen, endlich sprachlich ausdrücken zu können, wofür sie als Heranwachsende keine Worte kannten.
Die mittlerweile erwachsenen Kinder hingegen reflektieren das Verhalten der Eltern. Es findet ein Rollentausch statt: Sie machen sich bewusst, was den Eltern unbewusst ist, um selbst heilen zu können. Dass ein Elternteil regelmäßig ohne eine ausführliche Erklärung und auf unbestimmte Zeit in der Psychiatrie verschwand, bedeutete für manche der Alltag. Doch nicht alle Eltern verdrängen ihre Krankheit. Einige der Kinder befinden sich in Absprache mit Ärzt:innen, eine verfügt sogar über eine Vorsorgevollmacht.
Die Probleme aus der Kindheit lösen sich nicht automatisch in Luft auf, sobald man erwachsen wird. Oft werden Geschwister als Leidensgenossen durch die belastende Zeit gesehen oder der Kontakt stellt sich bis heute als schwierig heraus. Viele berichten außerdem davon, wie schwierig die Partnersuche für sie ist oder führen eine Beziehung, in der psychisch erkrankte Eltern als gemeinsames Fundament dienen, um einander zu verstehen. Auch gibt es mehrere, bei denen die traumatischen Kindheitserfahrungen dazu führten, beruflich anderen helfen zu wollen.
Aus den Verletzungen liest sich zugleich unglaublich viel Stärke und Resilienz heraus. Einige konnten ihre Traumata besser, andere schlechter überwinden. Klar wird jedoch, dass es für alle auch heute noch nicht leicht ist und Heilung niemals vollends abgeschlossen ist, sondern ein Prozess bleibt, der mal mehr und mal weniger Raum einnimmt. Letztendlich scheint für alle eine späte Auseinandersetzung besser zu sein als gar keine – so schmerzhaft sie auch sein mag.

Persönlicher Leseeindruck

Für mich selbst war das Leseerlebnis sehr intensiv. Herausfordernd, aber gut! Es ist keine leichte Kost aufgrund der schwerwiegenden Themen, aber die Texte lassen sich dennoch angenehm lesen. Am spannendsten fand ich an mir selbst zu beobachten, welche inneren Reflexionsprozesse durch das Lesen angeregt wurden. Man kommt nicht drum herum sich zu fragen „Ist das bei mir auch so?“, eigene Familiendynamiken zu analysieren, ähnliche Gedanken und Verhaltensweisen an einem selbst zu entdecken. Dabei wird man zwangsläufig auch mit eigenen schmerzhaften Erinnerungen konfrontiert. Durch das pausenlose Herstellen von Analogien in meinem Hirn – selbst bei komplett fernen Krankheitsbildern, von denen keine:r in meiner Familie betroffen ist – habe ich sehr lange zum lesen und „verdauen“ gebraucht.
Der Ratgeber ist kein Buch, das man an einem Stück verschlingt, weil er dafür zu sehr emotional fordert. Bei jedem Abschnitt habe ich Mitgefühl, Verständnis und tiefen Respekt für das Teilen solcher intimen Erfahrungen empfunden. Aber auch Dankbarkeit, dass ich selbst nicht die beschriebenen Erfahrungen erleben musste. „Die uns anvertrauten Lebensgeschichten empfinden wir als Geschenk“ (S.8), lautete der Wortlaut der Herausgebenden und auch ich stimme ihnen vollkommen zu: Jede einzelne Geschichte ist für mich gleichermaßen kostbar.
Ich empfehle dieses Buch von Herzen jeder Person, die auch nur überlegt, ob die Thematik etwas für sie sein könnte: Denn ich bin überzeugt, dass jeder Mensch davon etwas mitnehmen kann.

Empfehlung und Kritik

Insgesamt handelt es sich um eine tolle Zusammenfassung. Die Erfahrungsberichte sind klar formuliert, auch für Außenstehende nachvollziehbar und lassen die Lesenden sowohl mitfühlen, als auch dazu lernen. Zudem sind sie abwechslungsreich ausgewählt, dass von „allem was dabei ist“ – sei es eine bestimmte Krankheit, Altersgruppe, soziale Schicht etc. Besonders hilfreich ist zudem der umfangreiche Serviceteil.
Ein zweiter Teil wäre schön, da die Erfahrungsberichte gekürzt werden mussten und es schade um die nicht erschienenen Texte ist. Gerade weil laut Angaben der Herausgebenden wenig Fachliteratur zu dem Thema, dafür aber genügend autobiografisches Material zur Verfügung steht. Desweiteren liegt der Fokus dieser äußerst diversen Sammlung eher auf Erfahrungsberichten unter schweren Krankheitsverläufen und behandelt somit vor allem Extrembeispiele. Interessant wäre sicher auch die Perspektive von betroffenen erwachsenen Kindern bei weniger stark ausgeprägten Symptomen, damit sich noch mehr Menschen darin wiederfinden können.
Großes Lob an alle die an dem Werk mitgewirkt haben, für den Mut der Betroffenen und die Mühe des sorgfältig ausgearbeiteten Serviceteils!

Eckdaten zum Buch:

Unsichtbare Narben // Erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern berichten //
Johannes Jungbauer und Katharina Heitmann (Hg.) // BALANCE buch + medien verlag (Imprint des Psychiatrie Verlag GmbH) // ISBN: 978-3-86739-294-5 // Preis: 17€

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