1931 machte sich eine Gruppe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf den Weg nach Marienthal, ein Industriedorf 20 Kilometer südöstlich von Wien, um diese Frage zu beantworten.
Die Textilfabrik der Marienthal Trumauer AG stellte Blau- und Rosadrucke her, die ins Ausland exportiert wurden. Später kam Kunstseide dazu. 1929 wurde die Fabrik in Folge der Weltwirtschaftskrise geschlossen. Schlagartig waren die meisten der 1486 Bewohner und Bewohnerinnen von Arbeitslosigkeit betroffen. Wie in einem Sozialexperiment bot sich der Forschungsgruppe des Wirtschaftspsychologischen Instituts der Universität Wien die Chance, Arbeitslosigkeit zu erforschen. Die Ergebnisse flossen in die sogenannte Marienthal-Studie ein, die in Deutschland 1933 veröffentlicht und zu einem Klassiker der empirischen Sozialforschung wurde.
Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel, die Hauptautoren der Studie und später bekannte Soziologen, hatten keine Theorie der Arbeitslosigkeit im Kopf, als sie das Forschungsfeld betraten.
Was erwartete sie dort?
Die materielle Situation der Leute war katastrophal. Die Fürsorgeleistungen waren gering; einige bekamen gar nichts mehr. Es gab Leute, die Hunde und Katzen aßen. Von 100 Kindern hatten nur noch acht ein gesundes Gebiss, was auf Mangel- und Fehlernährung hindeutete. „Wie kann ich mein Kind vom Fußballspielen abhalten, damit die einzige Hose nicht kaputtgeht?“ fragten Eltern in der Erziehungsberatungsstelle, die von der Forschungsgruppe eingerichtet worden war.
Von Rebellion war nichts zu spüren. Stattdessen trafen die Forscher und Forscherinnen auf eine völlig resignierte Gemeinschaft, die jede Hoffnung verloren hatte, dass sich etwas zum Besseren ändern könnte. Nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit hatte sich nicht nur eine materielle, sondern auch eine soziale, kulturelle und politische Bedürfnisreduktion breitgemacht: Die Buchausleihen in der Arbeiterbücherei waren fast um die Hälfte zurückgegangen, obwohl sie kostenlos waren. Niemand hatte mehr Lust, ins Theater zu gehen. Das Interesse an politischen Diskussionen war längst abgeflaut.
Die Forschungsgruppe beobachtete das Gemeindeleben, erfasste Lebensgeschichten, wertete Gesundheitsstatistiken aus, schaute in die Buchhaltung des Konsumvereins, legte Essverzeichnisse und Zeitverwendungsbögen an. Von allen Seiten sollte das Phänomen Arbeitslosigkeit erfasst werden. Und: Sie wollten sich in einer für die Bevölkerung nützlichen Form in das Forschungsfeld einbringen. Neben der schon erwähnten Erziehungsberatungsstelle riefen sie eine Kleiderhilfsaktion und einen Schnittzeichenkurs ins Leben. Sie richteten eine Mädchenturngruppe sowie eine ärztliche Sprechstunde ein. Aus den dabei gemachten Beobachtungen zogen sie Rückschlüsse, wie Arbeitslosigkeit erlebt und verarbeitet wird. Es ist dieser Mix aus statistischer Erhebung, teilnehmender Beobachtung und einfühlender Beschreibung, die sich Nachfolgestudien zum Vorbild nahmen.
Aus der Datensammlung entwickelten sie ihre Typologie von Arbeitslosigkeits-Haltungen: „ungebrochen“, „resigniert“, „verzweifelt“ und „apathisch“. Diese Haltungen setzten sie in Bezug zur Höhe der Arbeitslosenunterstützung. War diese hoch, war die Haltung ungebrochen – war sie niedrig, war die Haltung verzweifelt bis apathisch.
Die einstmals geregelte Existenz löste sich ins „Ungebundene“ und „Leere“ auf, da der Überfluss an Zeit, die die Arbeitslosen unfreiwillig hatten, die Zeit- und Tagesstruktur zerstörte: Pünktlichkeit machte keinen Sinn mehr. Die Bedeutung der Sonn- und Feiertage nahm ab. Gespräche zog man künstlich in die Länge. Man schlug die Zeit tot.
Wie es mit Marienthal und seinen Arbeitslosen weiterging, war nicht mehr Gegenstand der Untersuchung. Bis Mitte Mai 1932 liefen einige der Aktionen weiter. Die Autoren schreiben: „Wir haben als Wissenschaftler den Boden Marienthals betreten: Wir haben ihn verlassen mit dem einen Wunsch, daß die tragische Chance solchen Experiments bald von unserer Zeit genommen werde.“
Literatur: Jahoda, Marie; Lazarsfeld, Paul F.; Zeisel, Hans (1933/1975): Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Leipzig/Frankfurt a.M.