Autor:in: Irmgard Gummig

Die Sicht der tatsächlichen Dinge

Nervenheilanstalt (NHA) Uchtspringe
70er Jahre – Parallelen zur Gegenwart

Dies ist ein subjektiver Bericht. Fachberichte gibt es schon genug, es ist nicht meine Absicht, noch einen hinzuzufügen.

 

Es sind die 70-er Jahre. Im Rahmen ihres Studiums muss die junge Frau ein Praktikum in der „Nervenheilanstalt Uchtspringe“ absolvieren. Diese war damals mit 1370 Betten die größte Nervenklinik in Sachsen-Anhalt.
Psychiatrische Versorgung bedeutet Verwahrung in Großkliniken, wird hinter vorgehaltener Hand unter Kollegen geredet. Die Frau wird gewarnt, keine Widerworte seien angebracht und sie muss mit den gegebenen Umständen zurechtkommen, wird sie angewiesen.

„Halten Sie sich an den Plan und die Regeln!“

Bei ihrer Ankunft in Uchtspringe umgeben sie alte dunkle Gebäude, ein hoher Metall-Zaun mit Tor und Mauern grenzen das Gelände ein. Riesige Bäume und dunkle Asphaltwege verstärken den düsteren Eindruck.

Für ca. 40 gehörlose und/oder geistig behinderte Kinder wurde in Uchtspringe die erste pädagogische Spezialeinrichtung in der DDR geschaffen. Dort soll die junge Frau für mehrere Monate arbeiten. Nach ein, zwei Tagen löst sich ihre Schockstarre und sie registriert die realen Zustände auf der Kinderstation. Es ist kaum zu glauben. Um ca. 4 Uhr ist wecken, trotz Geschrei der armen Kinder. Im kalten, dunklen, mit alten angeschlagenen Fliesen ausgestatteten Bad sitzen diese dann, barfuß auf den Fliesen, mit Nachthemden, auf Töpfchen in Reih und Glied. „Mach was“ werden sie angeschrien, mit Waschlappen über die kleinen Körper geschrubbt währenddessen. Windeln dann noch, egal wie alt die Kinder sind. So viele schrecklich unglückliche Laute, die meisten Kinder hören oder sehen schlecht und sind geistig nicht altersgemäß entwickelt.

Einige werden angebunden, weil sie körperlich nicht in der Lage sind, allein zu sitzen. Andere liegen bewegungsunfähig im Bett, machen gequälte Geräusche bei den hastigen und groben Berührungen während der Körperpflege. An sogenannten „Badetagen“ werden Kinder gezwungen zu duschen, egal wie groß die Scham und das angstvolle Geschrei ist.
Dann gibt es Anweisung, Kinder anziehen, auch wenn sie schreien, hastig, hastig, an die Tische schieben, anbinden, wenn es nicht sitzt, einklemmen. Kleinkindern schnell Fläschchen in den Mund gestopft, drängen, dass sie trinken, wenn sie sich verschlucken, auf den Rücken schlagen oder kopfüber halten. Den größeren Kindern wird nach und nach Marmeladenbrot reingestopft, schnell trinken nebenbei, wir müssen es so schaffen. Ein bis zwei Schwestern sind in einer Schicht, und die junge Frau, sie müssen alle Kinder, egal wie alt und gehandicapt, versorgen.

Später soll Tagesprogramm absolviert werden. Therapieangebote sind sehr unterschiedlich: von Malen, Singen, Gesprächen, bis hin zu gar nichts und reiner Verwahrung und wieder anbinden an Heizungen und Stühle. Klar, es war eine Planung entwickelt worden, auf Therapiephasen zugeschnitten, ein sogenannter Spieltherapiekatalog.
Dieser steht dem Stationspersonal zur Verfügung, aber die Zustände sind so schlimm, dass Spieltherapie für die speziellen Bedürfnisse der Kinder vom Team nicht umgesetzt werden kann. Alte Stifte, zerfledderte Bücher, zerschlissene Holzbausteine, mehr ist nicht zu sehen, doch, vergilbte Tapete hängt teilweise in Fetzen von der Wand, Putz und Farbe sind von den Wänden gekratzt. Das machen die Kleinen, wird gesagt, die unmöglichen, hoffnungslosen Fälle.

Die junge Frau versucht, ihre Verzweiflung zu verbergen und alles, was ihr möglich ist, den Kindern zu geben. Manche der Schwestern streichen zärtlich über Kinderwangen und -hände, singen leise Lieder. Unterricht findet manchmal klassenübergreifend in kleinen Gruppen statt, in der Krankenhausschule oder auf  Station. Ein Junge ist das Kind einer bekannten Persönlichkeit, er bekommt sehr viel intensivere und umfassende Sonderbehandlung. Elterngespräche, werden sehr isoliert und abgegrenzt von der Station geführt.
In der Zeit ihrer Tätigkeit dort soll die Frau auch die anderen Stationen der Klinik kennen lernen. Bei Schulungen erfährt die junge Frau, dass Elektrokrampftherapie häufig praktiziert, und als Behandlungsmethode die Praxis der Insulinschocks genutzt wird, über reichhaltige Medikamentengabe bekommt sie Information. Wenn Patienten etwas verweigern, herrscht übermäßiger Zwang oder Gewalt. Auch bei den erwachsenen Patienten sind Fixierungen zu sehen. Patienten sehen vernachlässigt aus, lethargisch. In mehr als vierzig Sälen sind zehn bis zwanzig Patienten auf engstem Raum untergebracht, oder in Zimmern für sechs bis zehn Personen. Die räumlichen Bedingungen sind schlecht, die Sanitäranlagen veraltet. Keine Grenzen sind möglich für die vielen Menschen mit den verschiedensten Erkrankungen.
Einzelzimmer?
Ja, die gibt es, die Gummizellen werden gezeigt.

Während vereinzelter Spaziergänge mit Kindern begegnen der Frau Patienten, die Ausgang bekommen haben, was extreme Ausnahmeregelungen sind. Manche sehen einen nicht an, andere kommen freudig auf sie zu, suchen regelrecht Kontakt und berühren einen. Die sind am schlimmsten, geistig gestört, leben schon länger hier auf dem Gelände, machen miteinander rum, wird unter KollegInnen abfällig behauptet. Damit diese keine Kinder bekommen, ist es so geregelt, dass Unfruchtbarmachungen durch chirurgische Eingriffe bei Männern und Frauen vorgenommen werden. Oder die Pille wird zwangsweise verordnet. Auch ältere Kinder, und Verbrecher, und solche Leute, die politisch nicht tragbar und deswegen hier sind, werden so zwangsbehandelt. Die junge Frau darf auf keinen Fall darüber reden, wird sie bei Dienstgesprächen an ihre Schweigepflicht erinnert, so etwas ist hier intern geregelt.

Die Psychiatrie der 70er war das also, was die Frau dort erlebte. Ihre Angst wurde sehr groß. Inzwischen war ihr nämlich seit längerem bewusst, dass auch bei ihr einiges anders funktionierte als bei anderen Menschen. Sie erlebte Zustände, die sie sich nicht erklären konnte, z.B. Gedächtnislücken, wochenlange Blackouts, hatte nicht in Erinnerung, wie sie an bestimmte Orte gekommen war, oder warum, konnte sie ihren Namen oder Alter manchmal nicht benennen, und Vieles anderes.
Zusätzlich überfluteten sie ständig die schrecklichen Bilder von den früher an ihr verübten Gewalttaten.

Sie schwieg darüber.

Das Erlebte in Uchtspringe zeigte der Frau nur zu deutlich, wenn jemand aus dem normalen Verhaltensmuster fällt und das nach außen hin zeigt, wird man „behandelt“,  in einer Form, die sie dort als menschenverachtend erlebt hat.
Jetzt möchte ich hier den Bezug zur Gegenwart benennen und damit begründen, warum ich die Tatsachen aus der Vergangenheit vorausgeschickt habe.

Jahrzehnte hat es gebraucht, bis ich den Mut fand, zu benennen, was mir selbst passiert war, und wie es dadurch in mir aussah. Dadurch konnte ich die Zusammenhänge zwischen meiner eigenen Traumatisierung in der Kindheit und meinen heutigen Erkrankungen erfassen, anfangen, anders damit umzugehen und es half mir, ein wenig zu heilen.

In dieser Lebensphase traute ich mich, trotz der Erlebnisse in Uchtspringe, die Hilfe in einer psychiatrischen Klinik hier in Bremen-Ost anzunehmen. Es war zuerst lebensrettend für mich, aber dann entwickelte es sich leider so, dass ich großes Unverständnis erlebte. Medikamentöse Behandlung wurde als Lösung geboten, bei Ablehnung von Medikamenten und dem Wunsch nach Gesprächen erfuhr ich überwiegend unpassende und grobe Behandlung seitens des Pflegepersonals. Gespräche waren unter Patienten möglich, das ja. „Was wollen Sie? Wir können nichts anderes für Sie tun“ bekam ich vom Oberarzt zu hören, Kommunikation war dort zum Schluss nur noch in der Form möglich, indem ich auf Zetteln mit großer Schrift meine Verweigerung ausdrückte. Ich bekam noch zusätzlich große Ängste, fühlte mich ausgeliefert, verwahrt und eingesperrt. Viele Faktoren sind Ursache für diese Behandlung gewesen, Unwissenheit, Zeitmangel, Hilflosigkeit, Ignoranz, so denke ich im Nachhinein über diese Behandlung. Vor allem aber zeigt es mir: viele alte Behandlungsmethoden waren und sind noch in manchen Köpfen der Beschäftigten in solchen Kliniken. Dabei hatte ich große Hoffnung darin gesetzt, hier in dem so fortschrittlichen Bremen eine menschlichere, reformiertere Form der Behandlung und Hilfe zu bekommen. Zum Glück schaffte ich es irgendwann, Kontakt zu Helfern nach „draußen“ aufzunehmen und kam mit deren Unterstützung aus der von mir empfundenen Hölle heraus.

40 Jahre liegen zwischen diesen beiden Berichten aus diesen so unterschiedlichen Kliniken. Aber sind die Unterschiede denn wirklich so groß? Diese Frage stellte sich mir.

Aus diesem eigenen Erleben entsteht für mich das Bewusstsein, dass die heutigen Zustände in psychiatrischen Einrichtungen immer noch und wieder sehr viel mehr überarbeitet werden müssen. Für mich ist es erlebte Tatsache, dass ein gleiches Maß an fachkompetenter Behandlung von psychisch und körperlich Erkrankten noch immer nicht gewährleistet und Psychiatriereform noch lange nicht genug fortgeschritten und überarbeitet ist.

Wie lange noch wird es dauern, bis diese Altlasten abgelegt sind?