„Du bist mehr als deine Diagnose.“, wurde mir oft gesagt, zwar nett gemeint und doch klangen die Worte wie ein ungeduldiger Vorwurf. In mir löste der Satz gemischte Gefühle aus: ein Cocktail aus Wut, Hoffnung, Angst, Trauer, Enttäuschung, Frust.
2020
Wer kennt mich wohl besser als ich mich selbst? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie mein Leben ohne Depression aussah. Das ist ein Fakt. Einer, den nur die Menschen wirklich verstehen, die das selber kennen. Natürlich kann ich mir ausmalen, dass es irgendwann wieder besser wird, aber glauben kann ich nicht daran. Dafür bin ich zu realistisch. Mit Anfang zwanzig hatte ich bereits vieles durchprobiert: Jahrelange Therapie(n), Ambulante psychiatrische Pflege, Antidepressiva, teil- und stationäre(r) Aufenthalt(e). Ohne eine signifikante Besserung bleibt da nur wenig Hoffnung übrig. In mir war so viel Traurigkeit, dass selbst die Therapeut:innen manchmal ratlos vor mir saßen, während sie mir stumm, halb nachdenklich, halb bemitleidend, beim Weinen zusahen.
Andererseits könnte mein Blick auf die Zukunft auch durch die Krankheit getrübt sein. So wie Verliebte eine rosarote Brille tragen, sehe ich alles mit einer Grauen. Jede Farbe, bunt oder blass, wird von mir wahrgenommen und wertgeschätzt, nur fühlen sie sich allesamt farblos an. Wenn die Sonne scheint, sehe ich wie meine Mitbewohner:innen sich freuen und raus gehen wollen. Das Wetter genießen. Mich zieht es nicht nach draußen. Ob ich jetzt eine Woche lang die Wohnung nicht verlassen würde – das wäre mir egal. Trotzdem bin ich dankbar für jeden Sonnenstrahl. Rein kopftechnisch. Nur emotional ist da Leere, Abwesenheit, tristes Grau. Grau, Grau, Grau. Nur weil man dieses Grau (zum Glück) nicht kennt, soll man mir nicht sagen, dass ich nicht alles in Grau sehen soll. Mein Leben ist nun mal grau. Meine Wahrnehmung ist grau. Ich darf sagen, dass ich nach all den Jahren eins geworden bin mit dem Grau. Meine gesamte Persönlichkeit baut auf meiner Depression auf. Wenn andere schwärmen, wie alt sie gerne nochmal wären, will ich nicht sagen „Ich wäre gerne tot.“, obwohl es der erste Gedanke ist.
Was bin ich denn ohne Diagnose? Ich bin vieles: empathisch, hilfsbereit, kreativ. Durch meine Hochsensibilität fühle ich auch die Traurigkeit in mir mit ungeheurer Stärke. Weil ich weiß, wie man sich an einem Tiefpunkt fühlt und ich anderen ihr Leid nicht abnehmen kann, möchte ich das Leid anderer zumindest minimieren,. versuchen, immer ein offenes Ohr zu haben. Die Hilfe zu geben, die ich früher nicht bekommen habe. Wäre das auch so ohne diese ganzen negativen Erfahrungen? Ich habe theoretisch Hobbys, viele sogar, aber ich gehe ihnen kaum nach. Meistens habe ich keine Lust oder Energie zum Malen, Basteln, Schreiben, Lesen, Yoga. Kann man diese sehr seltenen Tätigkeiten dann überhaupt noch als Hobbys bezeichnen? Meine Hauptbeschäftigung ist eher Serien gucken. Meine Lieblingsbeschäftigung definitiv Schlafen. Oder ist das eher die der Depression? Bin ich faul oder ist es die Depression? Egal wie rum ich’s dreh: Ich bin die Depression. Jede Charaktereigenschaft, jede Verhaltensweise hat sich aufgrund der Krankheit verändert, angepasst oder sich erst dadurch entwickelt.
2022
Mich hat die Pandemie gerettet. Natürlich war es trotzdem nicht immer einfach, aber im Großen und Ganzen bin ich mehr als gut durchgekommen. Als eine der Wenigen. Ironischerweise geht es nun vielen Leuten psychisch schlechter, die vorher nicht verstehen konnten, wie es in mir aussah. Die äußeren Umstände brachten sie dazu. Bei mir führten die äußeren Umstände dazu, zu akzeptieren, dass es okay war (im Lockdown sogar lobenswert), wenn ich nichts mit Freund:innen unternahm, nirgendwo hinging. Auch das Konsumverhalten verringerte sich enorm durch die fehlenden Partys. Mein Hirn wurde weniger benebelt, Gefühle nicht mehr betäubt. Es war plötzlich unwichtig, dass ich mich für den Weg zur Uni oft nicht aufraffen konnte. Ich durfte auch in Schlafsachen teilnehmen, von meinem Bett aus, dabei frühstücken und an einem guten Tag konnte ich während der Zoom-Sitzung sogar die Wäsche waschen, statt alles voraus zu planen und nacheinander abzuarbeiten. Alles kostete mich weniger Energie. Gleichzeitig schöpfte ich welche, denn durch die Entschleunigung des Alltags schaffte ich tatsächlich mehr, als zuvor. Außerdem habe ich gelernt, wie gut es mir tat, weniger unter Menschen zu sein, meiner introvertierten Seite auch Raum zu geben, meine Bedürfnisse zu hören, statt nur die meines Umfelds.
Heute würde ich tatsächlich sagen: Ich bin mehr als meine Diagnose. Niemals hätte ich gedacht, dass es mir mal so gut gehen würde wie jetzt gerade. Es fühlt sich absurd und schön zugleich an. Zwar bin ich immer noch krank, aber nicht mehr schwer depressiv. Und ja, verdammt, ich habe Hobbys und es ist scheißegal, ob ich irgendwas davon regelmäßig mache, solange ich ab und an mache, worauf ich Bock habe und Nein sage, wenn ich keine Energie habe. Ich mache mich nicht mehr so oft dafür fertig, wenn ich meinen eigenen Erwartungen oder denen anderer Menschen nicht gerecht werde. Wozu auch? Ich bin diejenige, die in der Klinik landet, wenn sie nicht auf sich achtet. Ich bin es, die sonst von der Depression gefressen wird. Ich will nicht gefressen werden. Dann bin ich lieber unbequem für alle anderen, setze nur noch Grenzen, überall, wie es mir passt. Das klingt sau- einfach und ist sauschwer, aber es ist bisher das beste Heilmittel, das ich finden konnte.