Vorlesen… Mir läuft der Angstschweiß den Rücken herunter.
Gleich bin ich dran. Aber ich will nicht. Ich werde einfach sagen, dass ich nicht lesen will. Aber in der Schule geht es nicht nach Wollen. Verzweifelt versuche ich ungefähr abzuschätzen, an welcher Stelle ich wohl vorlesen muss. Es geht schnell. Ich höre dem Vorlesenden nicht mehr zu und versuche den Text leise für mich zu lesen und einzuüben. Es ist schwer mich zu konzentrieren. Aber wenn ich den Absatz schon einmal gelesen habe, dann werde ich nachher beim lauten Vorlesen nicht so über die Wörter stolpern.
Ich bin fürchterlich aufgeregt, langsam wird mir schlecht. Ich kann mich nicht konzentrieren. Mit einem Ohr versuche ich noch dem Vorleser zuzuhören und zu überprüfen, ob der Absatz den ich vermutlich lesen muss, immer noch stimmt oder ob doch einer mehr gelesen hat, als ich dachte. Und so meine ganzen Bemühungen mich vorzubereiten umsonst waren. Das Vorlesen der Reihe nach ist nun bei meiner Sitznachbarin angelangt. Ich erschrecke, als ich sie meinen Satz sagen höre.
So ein Mist. Da hat wohl einer länger gelesen, als ich dachte.
Ich starte noch einen letzten Versuch mich vorzubereiten, während meine Sitznachbarin unermüdlich weiterliest. Als der Lehrer mich auffordert vorzulesen, weiß ich natürlich nicht, wo wir sind. Ich spüre schon wie mein Kopf langsam rot wird und schaue Hilfe suchend zu meiner Freundin neben mir. Sie zeigt mir, wo wir gerade sind und ich stolpere los. Ich fange an zu schwitzen und bekomme nach den ersten Worten kaum mehr Luft. Ich husche über die Wörter hinweg und natürlich mache ich Fehler. Mein Puls ist auf 180. Ich lese viel zu schnell und komme einfach nicht mehr in einen normalen Rhythmus. Lesen und an den richtigen Stellen Luft holen funktioniert nicht mehr. Ich gebe auf. Der Lehrer starrt mich an. Ich sage, dass ich keine Lust mehr habe weiterzulesen. Der Lehrer versucht mich zu provozieren, droht mit einer schlechten Note und sagt, dass so etwas Arbeitsverweigerung ist.
Mir ist das egal. Mit hochrotem Kopf mache ich mich klein und antworte einfach nicht mehr. Endlich gibt der Lehrer auf und mein Klassenkamerad liest weiter. Für mich ist die Stunde gelaufen. Ich kann nicht mehr zuhören. Hoffentlich erlöst mich bald die Pausenklingel.
Nicht nur in direkten Vorlesesituationen waren manche Lehrer nicht verständnisvoll, mir und meinem Problem gegenüber. In der fünften Klasse wollte mich die Deutschlehrerin in die Hauptschule schicken. Sie sagte, meine „Auffassungsgabe sei zu langsam“. Gottseidank ließen sich meine Eltern davon nicht beeinflussen, sie wussten, dass meine Legasthenie und die Angst vor der Deutschlehrerin, der Grund für die schlechte Deutschnote war. Also schickten mich meine Eltern auf eine Gesamtschule, wo ich einem wunderbaren Deutschlehrer begegnete. Herr J. Rettberg. Er ermutigte mich und schon im ersten Halbjahres-Zeugnis hatte ich meine erste Eins in Deutsch.
Letzten Endes habe ich bis zum Fachabitur Deutsch immer als Leistungskurs belegt und war meistens mündlich eine der besten Schülerinnen. Nur bei Diktaten hat sich bis zum Ende meiner Schulzeit nichts geändert. Egal wie sehr ich mich anstrengte, jedes mal wieder eine Sechs. Aber die Eins im mündlichen hat das ja zum Glück immer wieder sehr gut ausgebessert.
Die Schulzeit liegt nun schon ein paar Jahre hinter mir, aber Probleme durch die Legasthenie tauchen auch heute noch oft genug auf. Wenn mir Freunde ihr Handy in die Hand drücken und sagen: “Lies mal”, wird mir angst und bange. Denn mit 100%iger Sicherheit kommt schon bald ein „Wie lang brauchst du denn?“ hinterher.
Gute Freunde wissen, dass ich etwas länger zum Lesen von Texten brauche und lassen mir einfach etwas mehr Zeit.
Aber ein Film mit Untertitel nimmt da keine Rücksicht auf mich. Bei einem DVD Abend mit Freunden kann ich wenigstens jemanden bitten mir vorzulesen, was da steht. Denn obwohl es mir nicht an Intellekt fehlt, komme ich dennoch bei der Geschwindigkeit nicht mit.
Manchmal ärgert es mich, wenn Legastheniker Witze gemacht werden. Die meisten halten Legastheniker für dumm. Oder gleich für Analphabeten. Und das bin ich nicht. Ja, ich frage bei den einfachsten Worten „Wie schreibt man das?“ und ich brauche um einiges länger, Texte zu lesen, aber dumm bin ich nicht.
Ich schreibe gerne, kenne eine Menge Bücher und scheue mich nicht vor schwieriger Literatur. Nur beim Lesen und Schreiben brauche ich mehr Zeit und Hilfe. Gerne halte ich mich in der Stadtbibliothek auf. Allerdings eher im ersten Stock, bei den Hörbüchern. Ich bin froh, dass es hier in Bremen eine reichliche Auswahl gibt. So fühle ich mich weniger ausgeschlossen aus der wunderbaren Welt der Bücher. Es gibt noch zahlreiche andere Beispiele für die kleinen und großen Probleme als Legastheniker.
Ich persönlich denke, dass diese Schwäche zu mir gehört und auch ihren Teil dazu beigetragen hat, wer ich heute bin. Es ist nicht immer leicht. Gerade im Schulsystem sehe ich noch sehr viele Probleme, die durch mehr Wissen und etwas Verständnis verbessert werden könnten.
An die Legastheniker da draußen: Gebt nicht auf, teilt euch eurer Umwelt mit und lasst euch verdammt noch mal nicht einreden, dass ihr dumm seid!!!