Luca ist autistisch und hat ADHS, was oft zu AuDHS abgekürzt wird. Dass beides zusammen auftritt, ist sogar relativ häufig.
Vorwort
Diese Geschichte gibt nur einen winzigen Einblick in ein riesiges, vielfältiges Thema. Auch, wenn einige Sachen generalisiert formuliert sind, gibt es mit Sicherheit Ausnahmen, die die Regel bestätigen.
Alle genannten Verhaltensweisen sind menschliche Verhaltensweisen, die vermutlich fast jede:r in der einen oder anderen Form kennt. Ob man tatsächlich ADHS und/oder Autismus hat, erkennt man dann u.a. daran, wie viele der dafür typischen Verhaltensweisen man zeigt, wie häufig diese auftreten und wie sehr sie einen einschränken oder behindern.
Jede Person sieht die Welt auf ihre eigene Art und Weise, und wenn einige sagen „Dieses Verhalten zeige ich, weil ich autistisch bin”, kann das durchaus sein. Es heißt dann aber nicht, dass es ein generelles Kriterium für Autismus ist und auch nicht, dass alle autistische Menschen oder nur autistische Menschen das tun.
Disclaimer: Ich bin kein Experte, ich habe weder Psychologie noch Medizin studiert. Alles, was ich geschrieben habe, habe ich aus Literatur, Erfahrungsberichten und meiner eigenen Wahrnehmung. Diese Geschichte soll deshalb nicht als diagnostisches Material oder als Generalisierung für alle gesehen werden.
Ein Leben als AuDHSler
Luca ist müde. Nicht nur physisch, sondern vor allem psychisch.
Seit ein paar Wochen geht er in eine Tagesklinik. Seine offizielle Diagnose lautet Depression, doch Luca fragt sich, ob das stimmt. Also, er ist definitiv depressiv, aber er glaubt, dass das nur eine Folgeerscheinung ist. Eine Folgeerscheinung von seiner Neurodivergenz. Denn gerade therapieresistente Depressionen, wie Luca sie hat, sind immer wieder eine Folge von undiagnostiziertem ADHS und/oder Autismus. Und er vermutet, dass er beides hat.
Manchmal fühlt er sich gierig damit. Dabei ist es laut manchen Studien statistisch gesehen sogar wahrscheinlicher, beides zu haben als nur eins davon.
Luca glaubt, dass er beides hat, weil er Symptome von beidem zeigt und er zudem das Gefühl hat, aus Widersprüchen zu bestehen. Seine ADHS-Seite z.B. ist genervt von der Routine: vom täglichen Aufstehen, frühstücken, anziehen, Zähne putzen, dem immer gleichen Weg zur Klinik und nachmittags wieder zurück. Das ermüdet ihn, aber er braucht die Routinen, um nicht ständig alles zu vergessen. Seine autistische Seite hingegen mag die Routine, kauft und frühstückt immer das Gleiche und würde am liebsten immer dieselben Klamotten tragen, weil sie das beruhigend findet. Lucas ADHS ist oft spontan, neugierig und möchte alles Mögliche ausprobieren. Sein Autismus braucht Planung, Vorbereitung und muss vorher genau wissen, worauf er sich einstellen kann. Sein ADHS braucht fast konstante Stimulation, sein Autismus hat schnell zu viel und braucht viel Ruhe und Zeit für sich.
Beide Seiten sind unzufrieden mit dem, was die jeweils andere gut findet.
Es ist ziemlich anstrengend.
Luca hastet in die Tagesklinik. Seine ADHS-Seite schafft es morgens einfach nicht, in die Pötte zu kommen; jeden Morgen muss er sich auf dem Fahrrad abhetzen, um nicht zu spät zu kommen, da sein Autismus das unerträglich fände. Autist:innen lieben, verallgemeinert gesprochen, Regeln. Regeln geben dem Leben Struktur, man weiß, was man zu erwarten hat und wie man sich verhalten soll. Luca braucht lange, um mit anderen Menschen wirklich in Kontakt zu kommen. Er denkt manchmal, dass er erst herausfinden muss, was die „Regeln“ der anderen Person sind, bevor er weiß, wie er mit ihnen interagieren kann. Auch an neuen Orten hält Luca sich lange zurück und beobachtet. Sein Vater hat ihm vor einer Weile erzählt, dass er das auch beim Kinderturnen gemacht habe, als Luca so um die zwei Jahre alt war. Auch da wollte Luca nur zugucken, um zu schauen, was passiert und wie der Ablauf des Turnens ist, und dann entscheiden, ob er mitmachen möchte oder nicht. Das wurde ihm aber nie erlaubt und mit der Zeit hat Luca gezwungenermaßen gelernt, sein Beobachten zu überspringen. Er findet es aber immer noch sehr schwierig.
Es kommt auch öfter mal vor, dass Luca sich die Regeln einer Gruppe angeeignet hat und diese von jetzt auf gleich nicht mehr zu gelten scheinen. Er versteht nie, warum die Regeln geändert wurden, wer das wie beschlossen hat und warum alle außer ihm davon zu wissen scheinen. Er ist dann sehr verwirrt – und hin- und hergerissen zwischen dem Einhalten der ursprünglichen Regel, die eben die Regel ist, und der neuen Regel, an die er sich halten müsste, um nicht aufzufallen.
Das Lernen der Regeln ist eventuell ein Nebenprodukt vom Masking. Masking ist das, was viele neurodivergente Menschen (un)bewusst machen, um sich einer neurotypischen Welt anzupassen und nicht negativ aufzufallen. Sie verstecken z.B. ihr Stimming, zwingen ihr Gesicht bewusst dazu, die angemessenen Gesichtsausdrücke zu machen, und halten Augenkontakt, obwohl sie das schrecklich finden.
Aber Luca ist müde davon. Er hat sich selbst so lange versteckt, dass er gar nicht mehr weiß, wer er ist.
Vor ein paar Jahren, im Studium, kam von jetzt auf gleich ein großer Zusammenbruch. Damals wusste er eigentlich nichts von Neurodivergenz; er wusste darüber nur, dass damals in der Grundschule hinter vorgehaltener Hand über einen Mitschüler gemurmelt wurde „Der hat ja auch ADHS“, was ihm damals wie etwas Erschreckendes vorkam, und er kennt den Film Das Mercury Puzzle, in dem ein kleiner, weißer, autistischer Junge, der kaum spricht und bei Körperkontakt manchmal anfängt zu schreien, seine besondere Begabung nutzt, um einen Geheimcode zu entschlüsseln.
Während es viele autistische Menschen gibt, die nonverbal sind und Körperkontakt nicht ausstehen können, ist das nur ein Teil des Spektrums. Autismus ist wahnsinnig vielfältig und man trifft vermutlich keine zwei Menschen, die dieselben Verhaltensweisen zeigen.
ADHS und Autismus werden generell nach den Kriterien diagnostiziert, die von außen sichtbar sind, und nicht nach denen, die innerlich auftreten. Wenn Leute also ihre Neurodivergenz gut verstecken können, so wie Luca das sein Leben lang getan hat, dann fallen sie kaum negativ auf und niemand glaubt ihnen, wenn sie sagen, wie schwierig sie das Leben finden. Luca weiß nicht, wie oft er gehört hat, dass er sich nicht so anstellen soll, dass er sich nur mehr anstrengen muss, dass er schrecklich faul sei.
Das ständige Verstecken von seinen Eigenschaften hat vermutlich zu dem Zusammenbruch im Studium geführt. Dort wohnte er nämlich das erste Mal alleine, und der eigene Haushalt, um den er sich kümmern musste, seine eigene Versorgung und dann noch die ganze Selbstorganisation des Studiums waren dann zusätzlich zum Masking einfach zu viel.
Manchmal fragt Luca sich, ob das ein autistischer Burnout war. Einen solchen Burnout bekommen autistische Menschen, wenn sie zu lange (unbewusst) über ihre eigenen Grenzen gehen und dann eben irgendwann komplett zusammenbrechen. Die Symptome eines solchen Burnouts sind u.a. langanhaltende Erschöpfung, der Verlust einzelner Fähigkeiten und eine verminderte Toleranz gegenüber Stimuli. Luca hat von einer Person gehört, die durch den Burnout ihre Schuhe nicht mehr zubinden konnte und das ganz neu lernen musste. So etwas ist Luca glücklicherweise nicht passiert, aber er hat gehört, dass der Burnout auch den Verlust von psychischen und emotionalen Fähigkeiten bedeuten kann, und Luca fällt es mittlerweile sehr viel schwerer, seine Stimmungen zu verbergen oder auch Empathie für andere zu haben, weil ihm dazu oft schlicht die Kraft fehlt.
Er hat das Gefühl, dass er seit seinem Zusammenbruch damals eine komplett andere Person geworden ist. Früher war er gern ganze Wochenenden auf Festivals, oft auf mehreren pro Jahr. Mittlerweile bricht er heulend zusammen, wenn er ein paar Stunden lang solchen Menschenmassen ausgesetzt ist, und braucht Tage, um sich davon zu erholen. Auch Reize stören ihn heute so viel mehr. Er fragt sich deshalb oft, ob er sich das alles einbildet, denn früher hatte er damit ja kein Problem. Auch seine Eltern sagen immer wieder, dass er jetzt ganz anders sei als früher.
Allerdings würden ja auch gerade diese Symptome für einen Burnout sprechen.
Mittlerweile weiß Luca so viel mehr über Neurodivergenz und über Masking. Und er versucht jetzt aktiv, sich davon zu lösen und endlich zuzulassen, der zu sein, der er schon immer war. Dass er sich dadurch nach außen hin verändert, ist wenig überraschend.
Luca schafft es gerade rechtzeitig in den Therapieraum und lässt sich schwer atmend auf seinen Platz plumpsen. Nur eine Minute später kommt die Therapeutin herein. Sie begrüßt die Gruppe und möchte von allen hören, wie es ihnen geht. Während sie redet, guckt Luca auf ihren Mund. Er hat eine auditive Verarbeitungsstörung, die oft zusammen mit ADHS auftritt, und es fällt ihm oft schwer, zu verstehen, was gesagt wird. Das halbe Lippenlesen, was er jetzt macht, hilft ihm dabei extrem. Auch Serien oder Filme guckt er mittlerweile immer mit Untertiteln, ansonsten würde er die Hälfte einfach nicht verstehen. Da es Untertitel im echten Leben aber leider nicht gibt, muss eben das Lippenlesen herhalten. Das wendet er auch an, wenn er in einer lauten Umgebung ist. Er hat vor kurzem ein Video gesehen, in dem jemand simuliert hat, wie eine neurotypische Person ein Gespräch in einem vollen Restaurant wahrnimmt: die anderen Gespräche treten stark in den Hintergrund und es ist relativ einfach, zu hören, was das Gegenüber sagt. Luca musste lachen, als er das gesehen hat. So geht es den meisten Menschen?! Im zweiten Teil des Videos wurde simuliert, wie autistische oder neurodivergente Menschen wie Luca dieselbe Situation wahrnehmen: Hier treten die anderen Gespräche kaum in den Hintergrund, auch der Verkehr von draußen oder der Ventilator an der Decke wird wahrgenommen. Und vor diesem Lärm dann noch zu hören und vor allem zu verstehen, was der Gesprächspartner sagt, ist unglaublich anstrengend und erfordert viel Konzentration. Luca war fassungslos. Kein Wunder, dass er nach viel Trubel immer so erschöpft ist. Und kein Wunder, dass er Lippen lesen muss, um dem Gespräch folgen zu können.
Luca weiß auch, dass neurotypische Menschen sich meistens in die Augen gucken, wenn sie miteinander reden. Luca findet es schon unangenehm, das bei anderen zu beobachten. Er fühlt sich nicht gut mit Augenkontakt, hat sich aber Ewigkeiten dazu gezwungen, damit andere ihn nicht komisch finden. Wenn er wirklich Augenkontakt hält, ist er so darauf fokussiert, zu zählen, wie lange er in die Augen gucken muss, wie lange er weggucken darf, wann er wieder den Blick auf die Augäpfel des Gegenübers richten muss und wie lange er dann den Augenkontakt wieder halten sollte. Wenn Luca jemandem regelmäßig und lange in die Augen guckt, hört er mit 90%iger Sicherheit nicht zu. Wenn er hingegen in den Raum starrt und seine Hände beschäftigt sind, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass er zuhört.
Alles in allem fallen ihm Konversationen also recht schwer.
In der Mittagspause setzt sich Amelie zu Luca an den Tisch. Sie ist eine Mitpatientin in der Tagesklinik und die Person, mit der Luca hier am meistens Kontakt hat. Was nicht viel heißt.
„Na, wie war dein Wochenende?“, fragt sie.
Luca zuckt mit den Schultern. „Hab nicht viel gemacht. Samstag ein bisschen Haushalt, Sonntag ausruhen.“ So, wie er es seit Wochen tut, weil er es unter der Woche nicht schafft, irgendwas neben der Klinik zu machen. Es tritt eine kurze Pause ein, bevor Luca sich daran erinnert, dass er sein Gegenüber fragen muss „Und wie war deins?“
„Richtig gut!“, sagt Amelie aufgeregt. Luca bekommt das Gefühl, dass es von vornherein ihr Plan gewesen war, von ihrem eigenen Wochenende zu erzählen. Warum sie das dann nicht einfach tut, sondern erst nach seinem fragt, schiebt Luca auf die komischen sozialen Regeln, die für ihn meistens keinen Sinn ergeben.
„…und dann hat mich so ein riesiger Typ hinter mir hochgehoben und dann bin ich das erste Mal in meinem Leben crowd-gesurft! Es war so cool!“
Luca merkt, dass er bei einem Teil ihrer Geschichte wieder nicht zugehört hat. Er vermutet aber, dass sie von einem Konzert erzählt. „Oh, das hab‘ ich auch mal gemacht!“, ruft er. „Auf einem Festival war ich mit einer Freundin bei Placebo, und die waren so langweilig. Also haben wir angefangen mit Crowd-Surfing, haben uns dann wieder getroffen und sind noch mal crowd-gesurft, und noch mal. Im Endeffekt haben wir es bestimmt zehn Mal gemacht, das war so witzig!“ Bei der Erinnerung fängt Luca an zu lachen. Dann merkt er, dass Amelie nicht mitlacht, sondern eher unzufrieden aussieht. Luca denkt kurz nach, dann fällt ihm wieder ein, dass diese Art der Kommunikation vielen Menschen sauer aufstößt. Luca möchte damit sagen: „Ich habe dir zugehört und ich teile dir mit einer eigenen Geschichte mit, dass ich nachvollziehen kann, wie es dir in der Situation ging.“ Die meisten Leute verstehen seine anekdotische Kommunikation jedoch als „Es ist mir egal, was du erzählen möchtest. Ich beziehe diese Konversation wieder nur auf mich selbst.“
Er weiß, dass das seine Neurodivergenz ist. Er kennt eine Studie, in der Kommunikation zwischen Autistinnen und neurotypischen Menschen untersucht wurde. Die Kommunikation zwischen den neurotypischen Menschen klappte hervorragend, aber genauso gut klappte die Kommunikation der Autistinnen untereinander. Nur wenn beide Gruppen miteinander kommunizieren sollten, traten Verständnisschwierigkeiten auf. Es ist also nicht so, dass Luca nicht kommunizieren kann, er tut es nur anders als die meisten anderen Menschen.
Hastig fragt Luca: „Also war das Konzert gut?“
Amelie scheint beruhigt, dass sie wieder über ihre eigene Geschichte reden können, und setzt ihre Erzählung fort.
Am Nachmittag fährt Luca nach einem Tag voller Menschen den immer gleichen Weg zurück nach Hause. Eigentlich müsste er noch mal Wäsche waschen, doch er ist total erschöpft vom Tag, von den ganzen Menschen, vom Lärm, von Gerüchen, von sozialen Interaktionen. Vom Masking. Auch wenn er versucht, es sein zu lassen – was er sein Leben lang getan hat, ist schwer loszuwerden. Und die Angst, die damit einhergeht, wenn er bei Gesprächen nicht lächelt, den anderen nicht zwischenzeitlich in die Augen guckt und dann zusätzlich noch hin und her schaukelt, ist einfach zu groß.
Er schmeißt sich aufs Sofa und schaltet den Fernseher an. Er hat vor Kurzem eine neue Serie angefangen – auch etwas, worüber sein Gehirn mit sich selbst streitet: Neues anfangen oder doch das Vertraute noch einmal schauen? Doch Luca ist sehr verwirrt von der Serie. Und frustriert, weil er das Gefühl so gut kennt. Verwirrung begleitet ihn fast täglich; ständig überanalysiert sein Gehirn, ob die Leute meinen, was sie sagen, oder ob er nach einer versteckten Bedeutung suchen muss. Das Problem hat er auch hier. Er versteht z.B. die Motive der Charaktere oft nicht und warum sie die Dinge tun, die sie tun. Er versteht auch nicht, warum sie so selten nach dem Warum fragen. Luca fragt sich, ob andere Menschen diese Dinge instinktiv verstehen oder ob das filmstilistische Mittel sind. Sein eigenes Gehirn fragt ständig nach dem Warum. Wenn er das Warum nicht kennt, dann weiß er nicht, was er tun soll, was von ihm erwartet wird, worauf er hinarbeiten soll. Ohne den Grund ist sein Gehirn vollkommen verloren.
Er hat immer wieder Gespräche mit Freund*innen, in denen genau das zum Problem wird. Eine Freundin von ihm hat mal in einer Wohngruppe gewohnt und von einem Sponsor das Geschenk bekommen, eine Nacht in einem Hotel zu verbringen. In derselben Stadt, in der auch die Wohngruppe war. Luca war verwirrt. Wozu? Würde es nicht mehr Sinn machen, von dem Geld etwas zu schenken, was der Wohngruppe nützen kann? Doch je mehr Fragen er stellte, um zu verstehen, desto wütender wurde seine Freundin. Sie bekam das Gefühl, dass er mit seinen Fragen ausdrücken wollte, dass die ganze Sache bescheuert und sinnlos sei. Dabei wollte Luca es einfach nur verstehen.
Irgendwann kämpft er sich vom Sofa hoch, weil der Hunger überhandnimmt. Er schaut in den Kühlschrank und überlegt, ob er die vegetarischen Schnitzel mit Nudeln machen soll, doch er fühlt sich immer noch so müde. Er schließt den Kühlschrank, sucht nach einem sauberen Topf – zwei hat er noch – und kippt eine Dose voll Linsengedöns hinein. Er weiß, dass seine Ernährung sehr zu wünschen übriglässt, aber er weiß auch, dass es momentan einfach nicht anders geht. Er hat einfach keine Kraft. Selbst aufzustehen und sich diese Dose warm zu machen, ist eine wahnsinnige psychische Anstrengung. Aber hey, immerhin, er gibt seinem Körper Nahrung. Das ist das Wichtigste. Manchmal, wenn wirklich gar nichts mehr geht, bestellt Luca Essen zu sich nach Hause. Das ist teuer, aber immerhin versorgt er sich.
Während das Linsengedöns vor sich hin köchelt, setzt er sich und spielt sein Denksport-Handyspiel. Dabei hört er Musik – momentan hängt sein Gehirn wieder an einem einzigen Lied fest. Luca weiß nicht, warum das passiert, aber manchmal findet er Lieder, die er mag, und dann fügt er sie seiner Playlist hinzu. Wenn diese weiterläuft, merkt er jedoch, dass es sein Gehirn danach verlangt, dieses neue Lied noch mal zu hören, es war so cool. Und dann noch mal. Und da weiß Luca dann meistens schon, worauf das hinausläuft, und stellt das Lied auf Dauerschleife. Das Lied, an dem sein Gehirn momentan hängt, hört er seit einer knappen Woche. Ausschließlich. Und immer noch gibt es ihm Dopamin.
Er spürt plötzlich, wie sein Körper sich bewegen will. Er stellt den Herd aus, holt sich seine Kopfhörer, setzt sie auf und stellt die Lautstärke immer höher, weil es für sein Gehirn nicht laut genug sein kann. Und dann tanzt er.
Luca hat früher nie getanzt, zumindest nicht in Discos. Er fand es immer schrecklich; vielleicht war es die autistische Seite seines Gehirns, die nicht damit klarkommt, sich spontan Tanzschritte zu überlegen – im Tanzkurs mit festen Schrittabfolgen zu tanzen hat ihm nämlich Spaß gemacht. Mittlerweile denkt er aber auch darüber nach, ob es einfach Masking gewesen ist. Weil er sich sein Leben lang verwehrt hat, seinen Körper machen zu lassen und er so viel unterdrückt hat. Er hat erst vor wenigen Wochen mit dem angefangen, was er jetzt Stim-Dance nennt: Er lässt seinem Körper freien Lauf. Meistens wedelt er mit den Händen, dazu bewegt sich sein Oberkörper oft vor und zurück. Manchmal dreht er sich auch im Kreis, davon wird ihm allerdings schnell schlecht (was untypisch ist für Autismus – viele benutzen gerade Drehbewegungen, um sich zu regulieren). Manchmal springt er auch auf und ab. Oder macht komische Armbewegungen. Er lässt seinen Körper einfach machen. Obwohl es noch sehr schwierig ist, seinen Kopf tatsächlich auszuschalten, weil dieser eben so lange diese körperliche Reaktionen unterdrückt hat. Aber Luca lernt es langsam.
Tanzen ist Stimming. Stimming ist Regulation. Luca weiß nicht genau, wie das reguliert oder warum neurodivergente, insbesondere autistische, Gehirne das brauchen oder nutzen können. Er weiß nur, dass es ihm hilft, Sachen zu verarbeiten. Wenn ein plötzliches lautes Geräusch seine Ohren schmerzen lässt, wedelt er mittlerweile – wenn er es nicht aktiv unterdrückt – mit seinen Händen, um das Gefühl loszuwerden. Wenn er aufgeregt ist oder sich sehr freut, ballt er seine Hände zu Fäusten und macht kleine Auf- und Ab-Bewegungen, während er auch leicht auf und ab hüpft. Wenn er gestresst ist, oder manchmal auch in anderen Momenten, die er noch nicht kategorisieren kann, schaukelt sein Oberkörper vor und zurück oder hin und her.
Seit er mit dem Unmasken angefangen hat, merkt er oft erst, dass er stimmt, wenn er bereits damit angefangen hat. Er hat mal den Vergleich gehört, dass Unmasking wie eine neue Matratze ist: Wenn man sie aus ihrer Verpackung geholt hat und sie sich ausbreitet, kann man tun, was man will, man wird sie nie wieder in die Verpackung zurück kriegen. Luca würde dem Vergleich definitiv zustimmen: Auch er hat das Gefühl, ein wenig die Kontrolle über sein Stimming verloren zu haben. Allein zu Hause ist das kein Problem, aber in der Öffentlichkeit ist es beängstigend.
Oder bei seiner Familie. Wenn seine Eltern sehen, dass er mit dem Oberkörper vor- und zurückschaukelt, fragen sie ihn immer, ob er Hospitalismus hat. Das verletzt ihn. Er hat mal versucht, mit seinen Eltern über Neurodivergenz zu reden und es ihnen zu erklären, doch sie haben alles abgewiegelt. „Du bist ganz normal“, hatte seine Mutter gesagt, „und du bist auch immer normal gewesen.“ Luca hätte beinah angefangen zu lachen. Vermutlich ist er deshalb seit Jahren in Therapie.
Luca vermutet, dass seine ganze Familie unbekannt neurodivergent ist (Neurodivergenz ist oft genetisch bedingt) und dann ist es auch kein Wunder, dass sie ihn als normal ansehen. Sie sind eben genauso.
Einmal hat er gesehen, wie seine Mutter gestresst war und sich ihr Oberkörper vor und zurück bewegt hat. Fast sofort hatte sie die Bewegung jedoch gestoppt. Luca macht das traurig. Er wünscht sich, dass seine Familie sich erlauben könnte, sie selbst zu sein, so, wie er das mittlerweile lernt.
Luca hat eine halbe Stunde lang gestim-danced und ist verschwitzt, aber glücklich. Voller Motivation sucht er sich frische Klamotten und geht dann duschen.
Duschen, wie alle anderen Haushaltsaufgaben, fallen Luca schwer. Er hat mal gehört, dass neurotypische Menschen an eine Aufgabe denken und sie dann machen, vereinfacht gesagt. Nicht so Luca. Für ihn besteht jede Aufgabe aus tausend einzelnen Aufgaben, die er alle bewusst machen muss und die ihn alle Energie kosten. Beim Duschen zum Beispiel ist es nicht einfach nur Duschen. Es fängt an mit dem Heraussuchen von Kleidung, was Entscheidungen erfordert, die exekutive Funktion erfordern, die Luca oft nicht hat (fehlendes Dopamin und so). Dann müssen die Sachen ins Bad. Dann muss er sich ausziehen. Dann macht er die Dusche an, wartet auf warmes Wasser. Rein in die Wanne. Vorhang zu. Shampoo benutzen und Haare waschen, Duschgel benutzen und Körper waschen. Alles abspülen. Dusche aus. Vorhang auf. Handtuch nehmen, abtrocknen (was sich meistens unangenehm anfühlt. Einerseits der raue Stoff auf der Haut, andererseits auch die wechselnden Temperaturen). Handtuch aufhängen. Unterhose anziehen, Socken anziehen, Hose anziehen. T-Shirt anziehen. Am Ende ist Luca meistens so erschöpft, dass er es nicht mehr schafft, die alte Kleidung aus dem Bad und in den Wäschekorb zu bringen. Er lässt sie liegen. Später. Wenn er mehr Energie hat.
Das denkt er sehr oft, seit er in der Tagesklinik angefangen hat. Vorher, als er wochenlang nur zu Hause war, hat er seinen Haushalt recht gut im Griff gehabt, Zeit und Energie für Sport und Freunde gehabt. Seit er in der Klinik ist… nicht so. Luca schafft es meistens gerade so, die absolut notwendigsten Sachen zu machen, für alles andere (wie z.B. das Bett neu zu beziehen oder das Bad zu putzen) bleiben einfach keine Löffel übrig.
Mittlerweile muss er auch seinen Freund:innen oft absagen, weil er keine Energie mehr für Menschen hat. Er hasst das. Er vermisst sie. Aber er weiß, dass er nach den Treffen so viel Energie aufgebraucht haben wird, dass er einem Meltdown gefährlich nahekommt. Und Luca hasst Meltdowns. Sie fühlen sich so schrecklich an. Außerdem braucht er nach jedem sozialen Kontakt, egal, wie gut er sich mit den Leuten versteht oder wie gern er sie mag, mindestens eine Stunde, um wieder runterzufahren und klarzukommen. Da er erst nachmittags aus der Klinik kommt, sich dann ausruhen muss, ein Treffen meist mehrere Stunden dauert und er danach noch Zeit für sich braucht, bevor er schlafen gehen kann… Wenn man am nächsten Tag um 6:30 Uhr aufstehen muss, ist das schwierig.
Also keine Freund:innen, sondern wieder aufs Sofa vor den Fernseher. Nach einer Weile schreckt Luca hoch. Wollte er sich nicht eigentlich was zu essen machen? War der Herd noch an? Er rast in die Küche und atmet tief durch, als er sieht, dass der Herd aus ist. Gut gemacht, Vergangenheits-Ich, denkt er und schaltet den Herd wieder an.
Beim Kochen hört er einen Podcast über Autismus. Da so viel medizinisches Fachpersonal so wenig Ahnung hat, verbreitet sich Wissen über diese Dinge meistens von Betroffenen zu Betroffenen. Und Luca muss so oft lachen, wenn er von ihnen hört, wie sie die Welt wahrnehmen oder wie sie Dinge tun – er ist genauso. Und endlich fühlt er sich nicht komisch, nicht mehr anders als alle anderen, nicht mehr allein. Er hat seine Community gefunden.
Heute behandelt der Podcast, der von einem Autisten gemacht wird, Merkmale, die er seinem eigenen Autismus zuschreiben würde. Punkt fünf lautet „over-annoyance with everyday tasks“ [übermäßiges genervt sein von alltäglichen Aufgaben”]. Luca weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll. Er fühlt sich so gesehen.
Als er einen Löffel aus der Schublade holt, um damit das Linsengedöns umzurühren, fällt ihm dieser runter. Es ist eine winzig kleine Sache, die passiert ist. Aber das Klirren des Löffels und der Fakt, dass etwas schiefgelaufen ist, geben Luca das Gefühl, als würde er gleich anfangen müssen zu weinen. Bei einigen autistischen Menschen scheint das Gefühl, weinen zu müssen, ein erstes Anzeichen für einen Meltdown zu sein. Luca atmet tief durch. Ist okay, sagt er sich. Nur ein Löffel. Aufheben, kurz abwischen, nichts passiert. Alles ist gut. Er macht es. Aber er ist so müde.
Mit seinem Essen setzt er sich wieder vor den Fernseher. Er guckt auf die Uhr. Schon fast 22 Uhr. Bei dem Gedanken daran, dass er morgen früh schon wieder aufstehen und muss und dann der ganze Spaß von vorne losgeht, fühlt Luca sich erneut den Tränen nahe. Er kann nicht mehr.
Luca hat Delayed Sleep Phase Syndrom, zu Deutsch Verzögertes Schlafphasen-Syndrom. Auch das tritt häufig mit ADHS zusammen auf. Für Luca bedeutet das, dass sein natürlicher Biorhythmus um ein paar Stunden nach hinten verschoben ist. Wenn er kann, geht er erst zwischen zwei und drei Uhr nachts ins Bett, weil das die Zeit ist, zu der er müde wird. Er schläft dann meistens bis 11 oder 12 Uhr, startet in den Tag, macht manchmal gegen 18 oder 19 Uhr seinen „Mittagsschlaf“ und ist dann in seiner aktivsten Phase, bis er zwischen 2 und 3 Uhr wieder müde wird. Luca mag das nicht. Es ist nicht kompatibel mit dieser Gesellschaft. Und die Motivation, die gegen 22 Uhr auftaucht, kann er meistens nicht nutzen, weil er dann nicht mehr staubsaugen oder einkaufen gehen kann. Das frustriert ihn sehr.
Heute geht es Luca nicht gut. Das löst meistens seine Revenge Bedtime Procrastination aus, was ich nicht auf Deutsch übersetzen kann. Aber dadurch, dass er früh schlafen gehen sollte, weil er gezwungen ist, am nächsten Tag früh aufzustehen, weigert sich sein Kopf. Es fühlt sich an, als würde sein Gehirn sagen „Du willst von mir, dass ich früh schlafen gehe? Gut, dann mache ich genau das jetzt nicht.“ Luca hat oft das Gefühl, überhaupt keine Kontrolle über sein Gehirn zu haben. Meistens rennt er ihm hinterher, versucht zu verstehen, was die Probleme sind, und sucht dann verzweifelt nach Lösungen, die sein Gehirn zufriedenstellen. Es ist sehr anstrengend.
Gegen 23:30 Uhr schafft Luca es dann ins Bett. Da sein Gehirn nie Ruhe gibt, hört er mittlerweile Einschlafgeschichten, die es meistens genug ablenken, damit er einschlafen kann.
Wenn seine Methoden mal nicht funktionieren, wird Luca schnell aggressiv. Einschlafen ist nämlich nichts anderes als warten, und Luca hasst warten. Das ist auch ein Grund, warum er täglich die halbe Stunde Fahrrad fährt statt mit Bus und Bahn – das Warten. Luca ist wahnsinnig ungeduldig und braucht quasi ständig Stimulation. Das ist ebenfalls ein klassisches Symptom von ADHS. Und das hat er nicht erst seit social media, das hatte er auch als Kind, als es noch keine Handys gab. Bei jedem Restaurantbesuch war das Warten aufs Essen fast unerträglich. Eine Zeit lang baute er deshalb immer Kartenhäuser aus Bierdeckeln. Irgendwann wollte er sein Buch mitnehmen, doch sein Vater fand das zu unsozial. Deshalb ging Luca dazu über, Spiele mitzunehmen, die sie dann gemeinsam spielen konnten.
Mittlerweile gibt es haufenweise Handys, und obwohl Luca fast nie mehr an Spiele denkt, hält ihm seine Mutter jetzt jedes Mal ihr Handy unter die Nase, auf dem sie reihum versuchen, Wörter zu erraten.
Wie war das noch mit dem „ganz normal“?
Luca schaltet die Einschlafgeschichte wieder aus. Er merkt, dass sein Gehirn noch dabei ist, die Eindrücke des Tages zu verarbeiten. Sein Gehirn verarbeitet die Dinge nämlich nicht, während sie passieren, sondern hinterher, in Ruhe. Wenn er sich über den Tag keine Zeit nimmt, um das zu tun, passiert es eben, wenn er ruhig im Bett liegt und versucht, einzuschlafen.
Nach einer Weile spürt er, wie sein Gehirn sich anderen Dingen zuwendet, und schaltet die Einschlafgeschichte wieder ein. Dann funktioniert das Einschlafen zum Glück relativ gut – nach nur 15 Minuten ist er weg.
Als er am nächsten Morgen aufwacht, fühlt er sich physisch tatsächlich fast gar nicht müde. Erstaunlich. Er versucht, aufzustehen. Sein Körper bewegt sich nicht. Er stöhnt. Nicht schon wieder. Er hat noch ein bisschen Zeit, deshalb döst er eine Weile vor sich hin und lässt seine Gedanken schweifen. Nach zehn Minuten ist die Situation jedoch unverändert, und langsam wird das knapp mit dem Frühstücken. Luca sagt seinem Kopf „Okay, wetten, dass du es nicht schaffst, die Decke wegzuschlagen und aufzustehen?“ Er spürt, wie sein Gehirn wütend wird. „Wie kannst du es wagen?“, denkt es. Beinahe klappt es. Beinahe. Doch sein Gehirn weiß, was er tut, und lässt seinen Körper weiterhin liegen. Luca nimmt sein Handy und macht sich stimulierende Musik an. Damit geht es endlich; nach ein paar Liedern schafft er es, aus dem Bett zu steigen.
Auf in einen neuen Tag.
Luca seufzt.