Ich hatte mit dem Thema Religion bisher nur wenige Berührungspunkte. Und wenn, waren sie negativ, nervig und zogen jedes Mal erneut Wut und Frust nach sich. In der Grundschule sagte mein Religionslehrer damals: „Gott hält die Welt in seiner Hand.“ Mit dem Pragmatismus eines Kindes fragte ich mich, wie das sein könne, wenn so viel Böses auf der Welt geschieht. Ehrlich gesagt, ist diese Frage geblieben. Als Teenager geriet ich immer wieder in Diskussionen, nahezu Streitereien, mit Freundinnen, die gläubig waren, und als junge Erwachsene erlebte ich Ablehnung durch meine gläubige Oma aufgrund der Tatsache, dass ich mich Frauen zuwandte und nicht das klassische Rollenbild lebte. Kurzum: Ich stand mit dem Thema auf Kriegsfuß. Kam es doch einmal auf, sagte ich zwar jedes Mal, dass jeder ja so leben könne, wie er möchte, solange niemand zu Schaden käme oder der Versuch unternommen würde, eine andere Person zu indoktrinieren – meinte aber eigentlich: „Ich verstehe überhaupt nicht, wie man GLAUBEN kann. Wie kann man an etwas glauben, das nicht greifbar oder wissenschaftlich belegt ist?“
Als feststand, dass es in der nächsten Ausgabe des ZWIELICHTS um das Thema Religion gehen solle, ging ich zunächst auf die Barrikaden, wollte mich sogar komplett von der Ausgabe distanzieren. Es dauerte ein paar Tage, bis sich mein Unmut gelegt hatte und ich anfing, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Dann stolperte ich über die Feministische Theologie.
Die Theologie an sich versteht sich als Lehre Gottes oder als wissenschaftliche Lehre einer als wahr vorausgesetzte Religion, ihrer Offenbarung, Überlieferung und Geschichte. Die feministische Theologie befasst sich mit der Rolle der Frau in der Bibel und der Rolle der Frau in der Religion im Allgemeinen. Als Grundbaustein der feministischen Theologie kann betrachtet werden, dass Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals zum Theologiestudium zugelassen wurden. In den späten Sechzigerjahren kam zusätzlich die Frauenbewegung, sprich, die Emanzipation der Frau hinzu, die wohl ihr Übriges tat, um die Feministische Theologie als theologische Richtung zu stärken. Auch die Befreiungstheologie ist mit der Feministischen Theologie verwandt. Sie hat ihre Wurzeln in Lateinamerika und versteht sich als „Stimme der Armen“ im Kampf gegen Ausbeutung, Entrechtung und Unterdrückung. Lässt man den Glauben einfach mal außen vor und betrachtet lediglich die Tatsachen, dann ist es nur natürlich und an der Zeit, dass sich Frauen den Weg in eine Domäne gebahnt haben, die überwiegend vom Patriarchat (Gesellschaftsordnung, bei der der Mann eine bevorzugte Stellung in Staat und Familie innehat) beherrscht wurde und wird. Feministische Theologinnen forschen nach bedeutenden Frauen in der Geschichte der Kirche und haben das Anliegen, die Erfahrungen von Frauen in die Theologie einfließen zu lassen und diese, ausgehend davon, kritisch zu betrachten. Dieser Aspekt ist deshalb so enorm wichtig, weil Frauen Jahrtausende lang kaum an der Formulierung von Theologie beteiligt waren, was zu Verzerrungen und Leerstellen führte, da eine Hälfte der Menschheit ihre Meinung oder Erfahrungen nicht schildern konnte. Wie könnten also Bibeltexte oder Geschichtsanalysen aus weiblicher Sicht aussehen? Ungeachtet meiner Einstellung eine spannende Frage. Es geht sowohl um die Befreiung aus dem Patriarchat, als auch um die Gleichstellung der Frau. Und von der sind wir in vielen Bereichen noch weit entfernt. So begegne ich zum Beispiel der Gegebenheit, dass im Katholizismus Frauen bestimmte Ämter nicht ausführen können oder dürfen, mit Unverständnis und Ärger, was meiner Ansicht nach auf einer sehr fragwürdigen Argumentation beruht und es eher den Eindruck macht, als würden sich Männer in gewissen Ämtern dagegen aussprechen, um weiterhin eine Monopolstellung für sich zu beanspruchen. Die angeführte Argumentation beruht darauf, dass Christus wohl ausschließlich Männer zu seinen Aposteln berufen haben soll und man sich aufgrund dessen dieser Tradition verpflichtet sieht (mir stehen bei diesen Worten die Haare zu Berge!). Die evangelische Kirche hingegen ordinierte 1958 zum ersten Mal eine Frau auf eine Pfarrstelle.
Eine der radikalsten, aber sogleich bedeutendsten feministischen Theologinnen, war die Amerikanerin Mary Daly. Obwohl sie zunächst praktizierende Katholikin war, kam sie zu der Ansicht, dass alle organisierten Religionen irreparabel patriarchal seien und nannte sich infolgedessen „postchristian“ (deutsch: nachchristlich). In einem Interview mit der Zeitschrift „EnlightenNext“ sagte Daly einst:
„Ich denke nicht über Männer nach. Sie sind mir wirklich egal. Ich befasse mich mit den Fähigkeiten von Frauen, die unendlich unter dem Patriarchat herabgesetzt wurden. Nicht, dass sie verschwunden wären, aber sie wurden unterdrückt. Ich befasse mich damit, wie wir Frauen unsere Fähigkeiten erweitern, sie zur Verwirklichung bringen. Dies benötigt meine ganze Energie.“
Ihr Werk „Beyond God the Father“ (deutsch: Jenseits Gottes des Vaters) wird häufig als grundlegende Arbeit in der Feministischen Theologie bezeichnet und in einem weiteren ihrer Werke, „The Church and the Second Sex“ (deutsch: Die Kirche und das zweite Geschlecht), argumentiert Daly für die Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Sie befindet, dass die Kirche die Bedeutung der Gleichstellung von Männern und Frauen anerkennen müsse, da sie gleich geschaffen seien. Auch wenn sowohl manche Aussagen, als auch Taten Dalys sehr radikal mögen wirken (so ließ sie z.B. männliche Studenten zu ihren Kursen über Feministische Ethik nicht zu), ebnete sie doch den Weg für viele Theologinnen in der heutigen Zeit und ist ein wichtiger Bestandteil der Bewegung. So wie viele weitere bedeutende Frauen, die sich für die Gleichberechtigung der Frauen in der Religion eingesetzt haben und sich noch einsetzen. Seit 1986 ist die wissenschaftlich ausgerichtete Feministische Theologie in Europa durch die ESWTR (Europäische Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen) vernetzt. Dieses Netzwerk setzt sich aus mittlerweile 600 Mitgliedern aus mehr als dreißig europäischen Ländern zusammen und gibt seit 1993 ein Jahrbuch heraus, das über die verschiedenen Länder und ihre Entwicklungen der Feministischen Theologie informiert sowie Artikel zu aktuellen theologischen Problemen aus der Sicht von Frauen in den drei Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch enthält. Ein weiterer wichtiger Teil ist der „Buchmarkt“, der nicht nur Neuerscheinungen aus den verschiedenen Ländern, sondern auch ausführliche Besprechungen wichtiger Bücher enthält. So wird der Zugang zu Informationen vor allem für Mitglieder aus Ländern erleichtert, in denen die feministische Forschung bislang weniger anerkannt wird. Zusätzlich findet alle zwei Jahre ein europäischer Kongress in wechselnden Ländern statt.
Eine Frage, die sich mir im Laufe der Tage immer wieder stellte, war, ob ich der Religion oder dem Glauben gegenüber aufgeschlossener wäre, wenn das Frauenbild stärker vertreten wäre. Wenn nicht automatisch vorausgesetzt würde, dass Gott männlich ist. Ich würde wohl nicht an die Bibel per se glauben. Aber vielleicht hätte ich dennoch Zugang und Trost im Glauben an ein „Höheres Wesen“ gefunden. Natürlich könnte man sagen, dass an „Gott“ kein bestimmtes Geschlecht geknüpft ist, aber Bezeichnungen wie der „Heilige Vater“, „Gott, der Herr“ und das wohl bekannteste Gebet, das „Vaterunser“, lassen keinen anderen Schluss zu (wo ist hier noch Platz für Gleichberechtigung?). Der Gedanke, dass mir durch den fehlenden Glauben oder vielleicht sogar die mangelnde Fähigkeit, zu glauben, viel Halt und Trost abhandengekommen sein könnten, betrübt mich ein wenig. So war ich doch immer auf mich alleine gestellt. Vielleicht wäre es schön gewesen, auch an etwas zu glauben und mir das Schöpfen neuer Hoffnung und Kraft zu erleichtern. Und allein dieser Gedanke lässt mich die Menschen, die an etwas glauben, nun besser verstehen.