An einem Samstagvormittag, mitten im tiefsten Corona-Lockdown, sitze ich auf einem grauen Steinquader vorm Berliner Hauptbahnhof. Auf dem Vorplatz herrscht gähnende Leere. Der böige Wind treibt Pappbecher und altes Laub wirbelnd hoch in die Luft zu einem kreisenden Tanz. Da steht auf einmal, wie aus dem Nichts, ein ungefähr 35 Jahre alter Mann mit grün gefärbtem Haar und gerötetem Gesicht vor mir und fragt höflich, ob er den Herrn Studienrat bei der Zeitungslektüre stören dürfe. Studienrat? Ich mustere ihn fragend. Er trägt eine Bundeswehr-Hose und eine dunkle Weste, darunter ein weißes Hemd. Er sieht keineswegs verwahrlost aus. Ist er ein in die Jahre gekommener Punk? Oder ein arbeitslos gewordener Schauspieler, so artikuliert, wie er spricht? Kenne ich ihn nicht vom Fernsehen her? „Ich bin kein Studienrat“, erkläre ich, „aber ich möchte Ihnen ein paar Cents geben.“ Darauf hält er mir seinen Pappbecher hin, und ich tue etwas Klimpergeld hinein. Mit einer formvollendeten Verbeugung und einem verschmitzten Lächeln bedankt er sich und verschwindet so plötzlich, wie er gekommen ist.
Ein paar Monate später sind die Theater wieder offen. Ich sitze in einer Hamlet-Aufführung und traue meinen Augen nicht. Der in die Jahre gekommene Punk vom Berliner Hauptbahnhof spielt die Titelrolle.
Sein oder Nichtsein?