Zum Vortrag von Christoph Butterwegge an der Marxistischen Abendschule, DGB Haus, am 14. Oktober 2015
Christoph Butterwegge, Professor an der Universität Köln, mit Bremer Wurzeln, stellte auf der gut besuchten Veranstaltung im DGB Haus sein neu erschienenes Buch „Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik“ vor. (Beltz Juventa, 290 Seiten, 16,95 Euro). Am 01.01.2015 wurde Hartz IV 10 Jahre alt, eine Gelegenheit für die Nutznießer der von Gerhard Schröder auf den Weg gebrachten Agenda 2010, die besondere Bedeutung dieses Programms noch mal öffentlich zu loben.
Doch diese Nutznießer waren nur ein kleiner Teil der Deutschen: einflussreiche Arbeitgeber, die Leiter, Besitzer und Aktionäre großer Konzerne. Die Masse der Menschen aber erfuhr in den Folgejahren eine Erhöhung des Armutsrisikos, Lohn- und Gehaltseinbußen, schlechtere Arbeitsbedingungen, größere soziale Kälte, schließlich deutlich spürbare Entsolidarisierungs und Entdemokratisierungstendenzen. Das konnte Prof. Butterwegge natürlich auch in Zahlen deutlich machen. Inzwischen arbeiten ein Viertel aller Beschäftigten im sog. Niedriglohnbereich. 1,3 Mio. Menschen bekommen ALG II zu ihrem Lohn, der also so niedrig ist, dass sie davon nicht leben können. Sie arbeiten, erhalten aber eine Fürsorgeleistung, die genauso hoch ist wie die Sozialhilfe, so dass ALG II eigentlich Sozialhilfe II genannt werden müsste. Das Arbeitsamt stockt also die niedrigen Löhne auf, während die Gewinne der Konzerne in die Tasche derer fließen, die sie besitzen oder Eigentumsanteile, zum Beispiel Aktien, haben. Statt Arbeit haben die Menschen heute Jobs. Hauptsache Geld verdienen, egal wie.
Das Versprechen, Menschen schneller aus der Arbeitslosigkeit herauszuführen, bewahrheitete sich nicht, im Gegenteil, Menschen waren noch nie so lange in Arbeitslosigkeit wie heute, jeder Vierte zwei oder mehr Jahre. Bürokratie sollte abgeschafft werden, so lautete ein weiteres Versprechen, doch inzwischen geben die Jobcenter 5 Mrd. Euro alleine für die Verwaltung von ALG II aus. Das ist mehr Geld, als für Maßnahmen zur Eingliederung ins Arbeitsleben bereitsteht. Vor allem die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe sollte die Bürokratie abbauen, so entfiel aber nur unbemerkt die Arbeitslosenhilfe, die vor her einen Arbeitslosengeldempfänger, der zehn Jahre gearbeitet hatte, ermöglichte, bis zur Rente 53 % bis 57 % seines Nettogehaltes zu beziehen. Butterwegge weiß dies so genau, weil er selber gut 10 Jahre arbeitslos war, sein Aufstieg in eine Professur beschreibt er als ein unerwartetes Glück, das er da hatte, doch Armut ist deshalb noch lange kein Thema, das ihn kalt lässt.
Das besonders Bittere an der beschriebenen Entwicklung ist wohl, dass eine CDU/FDP geführte Regierung sie nicht hätte durchsetzen können, sie wäre auf zu großen Widerstand zum Beispiel der Gewerkschaften gestoßen. Gerhard Schröder und seiner SPD wurde vertraut, charismatische Gewerkschaftsfunktionäre wurden in das Programm miteinbezogen, und die Bildzeitung leitete den Erfolg der Agenda ein mit der Schlagzeile: „Es gibt kein Recht auf Faulheit.“ Da gibt es einige sprachliche Finessen, die da eingesetzt wurden, um das tatsächliche Gesicht der Agenda 2010 zu verschleiern, so Butterwegge. Zum Beispiel, den Hilfs bedürftigen als Kunden des Jobcenters zu beschreiben. Ein Kunde hat Geld, ein Kunde kann Service erwarten, ein Kunde ist König. Der Jobcenter-Kunde hat aber keine Möglichkeit, Druck auszuüben. Stattdessen muss er mit Sanktionen rechnen, wenn er sich nicht fügt.
In der anschließenden Diskussion äußerten die Teilnehmer, die gut informiert schienen, noch das ein oder andere Detail zu den Ausführungen Butterwegges, das noch einmal plastischer machte, was diese Agenda tatsächlich bedeutet für die Betroffenen, wie z.B. auch rechtliche Wege, die zur Verbesserung der Situation von Leiharbeitern führen sollen, blockiert werden. Prof. Butterwegge führte seine Überlegungen auch weiter dahingehend aus, welche Folgen die Dumpinglöhne in Deutschland für die europäische Wirtschaft hatten, wie südeuropäische Länder zwar aus dem Rennen geschlagen werden, da Deutschland so billig produzieren kann, dann aber durch Milliardenkredite des Europäischen Rettungsfonds wieder auf die Beine gestellt werden müssen, wie im Fall Griechenlands. Die Länder Südeuropas nun als Bittsteller, wie auch der Jobcenter-Kunde. Internationale Verträge sichern ab, dass Spielregeln, die Reiche reicher machen und Arme ärmer, nicht mehr ohne Weiteres geändert werden können, selbst dann nicht, wenn in Deutschland eine rot-rote Mehrheit von 90 oder mehr Prozent an die Regierung käme.
Der Verrat am kleinen Mann (und der kleinen Frau, natürlich) wurde in diesem Vortrag entlarvt. Dass es eben gerade vermeintlich soziale Politiker und Gewerkschaftler waren, die diesen Verrat möglich gemacht hatten, das erzeugte ziemlichen Unmut unter den Zuhörern. Wie soll darauf reagiert werden? Die rote Fahne zu schwenken, das würde nicht viel bringen, so Butterwegge. Hoffnung sieht er darin, dass das Bundesverfassungsgericht sich aktuell mit den Sanktionen gegen Hilfeleistungsbezieher durch das Jobcenter beschäftigt. Derzeit wird ermittelt, ob es sich bei den Jobcenter-Bezügen um Beträge handelt, die ein Existenzminimum bedeuten, oder ob da Spielraum nach unten ist. Eigentlich, so Butterwegges Prognose, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass es sich um nicht mehr als das Existenzminimum handelt. Sollte dies von den Bundesrichtern so festgestellt werden, würde das ein Ende Sanktionen bedeuten, bei denen Leistungen gekürzt werden, und das wäre dann ein echter Erfolg.