Welche Themen bewegen Psychiatrieerfahrene, in welcher Weise sind Menschen, mit und ohne psychische Geschichte, aktiv in der Anti-Psychiatrie-Bewegung, welche Wege zur Gesundung gibt es? All diese Themen wurden angegangen auf dieser Tagung, Fallstricke in der psychiatrischen Behandlung thematisiert, z.B. von dem aus den Medien bekannten Rechtsanwalt Dr. Strate, Anwalt des jahrelang zu Unrecht in der Psychiatrie festgehaltenen Gustl Mollaths. Zwei Redaktionsmitglieder des Zwielicht, Sabine Weber und Andreas Römer, hatten sich auf den Weg nach Kassel gemacht, um dann voller bewegender Eindrücke zurückzukehren, die sie dem Zwielicht geschildert haben.
Eröffnet wurde die Tagung mit einer Grußsendung der Ehrenvorsitzenden Dorothea Buck, die nicht persönlich er scheinen konnte. Vielen Psychiatrieerfahrenen ist sie bekannt als eine Frau, die die menschenunwürdigen Bedingungen in der Psychiatrie im Dritten Reich erlebt und sich, trotz Diagnose Schizophrenie, ein selbstbestimmtes Leben erkämpft hat. Man könnte sogar sagen, dass ihre intensive Auseinandersetzung mit ihrer Erkrankung es ihr ermöglichte, ihre Schizophrenie zu heilen, denn seit 30 Jahren hatte Frau Buck keinen psychotischen Schub mehr. In ihren Büchern beschreibt sie ihren Weg zur Gesundung. Dem Grußwort folgte ein Kabarettbeitrag der Künstlerin Annette Wilhelm, die, wie die meisten dort referierenden Teilnehmer, Psychiatrieerfahrung hat. Diese Erfahrung wird unterhaltsam darstellerisch geschildert, mit einer Prise Gesellschaftskritik dazu, wenn sie z. B. den Werbeslogan „Lidl lohnt sich“ ergänzt mit „…aber für wen?“.
Nach dem munteren Auftakt folgte dann ein Vortag des Rechtsanwalts Dr. Gerhard Strate, der Anwalt des durch verschiedene Medienberichte bekannt gewordenen Gustl Mollath. Dr. Strate gelang es 2014 nach zuweisen, dass Herr Mollath in die Psychiatrie eingewiesen worden war, ohne tatsächlich psychisch krank zu sein. Er war dubiosen Bankgeschäften seiner Frau auf die Schliche gekommen, die ihre Verbindungen nutzte, um ihn auszuspielen und einweisen zu lassen. Eine mit ihr befreundete Ärztin hatte dafür eine nerven heilkundliche Untersuchung vorgenommen, doch, was ist das eigentlich? Keiner weiß es genau. Verschiedene Gutachter der Psychiatrie bestätigten immer wieder erneut, dass Herr Mollath psychisch krank sei, teilweise ohne ihn überhaupt gesprochen zu haben. Mehrere Jahre saß er in der Psychiatrie fest, bis er in Herrn Strate einen Anwalt fand, der bereit war, seine Verteidigung zu übernehmen, und dem es mit seiner Hartnäckigkeit tatsächlich gelang, nachzuweisen, dass Herr Mollath nicht psychisch krank ist. Gustl Mollath hat dazu ein Buch veröffentlicht, in der er die Fertigmache, die er erlebte, weil er für die Behandler einfach unbequem war, beschreibt, Einblicke in den Psychiatriealltag gibt, und den juristischen Weg schildert, mit dem er aus der Psychiatriemühle herausfand. Dr. Strate veröffentlichte ebenfalls ein Buch über diesen Fall, aus dem er auf der Tagung vorgelesen hat. Unter anderem beleuchtet er, wie willkürlich ein psychiatrisches Gutachten entsteht. Gutachter sind die einzigen Instanzen, die keine Fachaufsicht haben, ein Gutachter kann also schreiben, was er will.
Im Anschluss an diesen Vortrag hatten die Teilnehmer die Wahl zwischen verschiedenen Arbeitsgruppen, zu denen sie sich anmelden konnten. Das Angebot beinhaltete so unterschiedliche Themen wie „Schamanische Heilweisen“, „Wohnverhältnisse Psychiatrieerfahrener“ oder „Eingliederung und Teilhabe: Anspruch und Wirklichkeit“. Sabine wählte die Veranstaltung von Peter Urban, in der es um Wohnprojekte geht, die sich am Modell der Soteria orientieren. Dabei geht es darum, Menschen mit psychischen Erkrankungen eine Wohnform zu bieten, die es ermöglicht, durch Krisen gehen zu können, ohne in die Psychiatrie zu müssen, und die dabei nicht extrem teuer ist. Vor dem Hintergrund, dass psychiatrische Krankenhäuser inzwischen fast ausschließlich mit Medikamentenzwang behandeln, ist dies eine Option, die für viele Betroffene interessant sein kann, allerdings nur wenigen Menschen offen steht. Es gibt noch nicht viele dieser Projekte. In dem vorgestellten Wohnprojekt in Frankreich, das inzwischen leider aufgelöst wurde, lebten sieben Betroffene, wobei Platz für Besucher und Gäste zur Verfügung stand. Es gibt in diesen Wohnformen Betreuung, die aber nur wenig vorschreibt, denn Ziel ist es, die Menschen dort so leben zu lassen, wie sie es möchten. Wer reden möchte, kann dies tun, aber manchem genügt es, dass da einfach nur jemand da ist, und das ist dann auch in Ordnung. Wer z. B. jeden Abend seine Füße mit Salat abreiben möchte, weil er sich davon Heilung verspricht, um ein reales Beispiel aus der Wohngruppe zu schildern, der kann dies ruhig tun. Man kann also Gewohnheiten nachgehen, die andere Menschen als verrückt bezeichnen würden, und, wie harmlos sie auch sein mögen, nicht tolerieren könnten. Medikamente kann nehmen, wer das möchte, doch die meisten Mitglieder so einer Wohngruppe tun dies nicht. Sie möchten die für sie notwendige Abschottung gegenüber einer zu schwierigen Außenwelt durch diese Wohnform erreichen, und eben nicht durch Medikamente. Um in der Gruppe bleiben zu dürfen, darf man sich und anderen nicht schaden. Herr Urban plant die Errichtung so einer Wohngemeinschaft in Thüringen. Eine Teilnehmerin äußerte den Wunsch, ein Rückzugszimmer nach diesem Modell an ihrem Wohnort einzurichten und bekam dafür spontan 500,00 Euro monatlich vom Vorstand bewilligt, nachdem die Teilnehmer dafür gestimmt hatten.
Andreas hat die Veranstaltung „Umgang mit dem Absetzen von Medikamenten“ besucht. Inzwischen darf dieses Thema diskutiert werden, und sogar die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) hat dazu hilfreiche Informationen veröffentlicht. Fast alle Betroffenen haben Erfahrungen mit dem Versuch, Medikamente von einem Tag auf den anderen komplett abzusetzen, was meistens nicht gut ging. Besser ist es, in Absprache mit dem Arzt langsam eine Reduzierung anzugehen und genau zu schauen, was passiert. Dass manche Neurologen von Reduzierung prinzipiell nichts hören wollen, ist wohl der Grund für die häufigen spontanen Radikalabsetzungen. Im Flyer der DSGP, wie auch auf dieser Veranstaltung, wurde darauf hingewiesen, dass man realistisch bleiben und Warnzeichen wahrnehmen muss, denn unser Organismus hat sich auf die Chemie eingestellt, und auch, wenn die Medikamente nicht abhängig machen sollen, kann eine Entwöhnungsphase trotzdem sehr schwierig werden. Gut, wenn man mit dem Neurologen oder der Neurologin offen sprechen kann und sich einbezogen fühlen darf. Ein Teilnehmer schildert dann auch, wie er im Laufe eines Jahres Medikamente erfolg reich reduziert hat und heute nur noch Bedarf im Schrank hat, den er circa drei Mal im Jahr in Anspruch nimmt. Dass diese Bedarfsmedikation im Schrank steht, ist für ihn dabei sehr wichtig. Ein anderer blickt heute auf sein Leben mit dem Gefühl, dass es verpfuscht sei, so zu gedröhnt, wie er viele Jahre war. Die Teilnehmer erkennen an, dass er gesehen werden möchte mit seiner Geschichte, fünf Minuten schweigen alle. Die Arbeit in den Gruppen beschreibt Andreas als den eigentlichen Kern der Tagung, hier tauscht man sich aus und kommt zu neuen Einsichten, da „bewegt sich was.“
Als weiteres Highlight beschreibt Sabine den Vortrag des Polit-und Umweltaktivisten Jörg Bergstedt, dem es immer wieder gelingt, großes Medieninteresse zu erlangen, mit gewagten Unternehmungen, die auf Missstände aufmerksam machen sollen. So einige juristische Verfahren hat er sich eingehandelt mit Aktionen, in denen er zum Beispiel auf Dächern psychiatrischer Kliniken kletterte und dort seine Banner hisste. Dies ist sein Weg, die Aufmerksamkeit dahin zu lenken, wo Menschen gerne wegschauen.
Psychiatrische Einweisung ist leider neben medizinischer Notwendigkeit, die sicher auch besteht, ein Mittel, den unbequemen Menschen zu entrechten und zu schwächen, und, so Bergstedt, „Recht hat der, wer das Recht durchzusetzen in der Lage ist“.
Abschließend lässt sich sagen, dass Andreas die diesjährige Veranstaltung als „mehr im Fluss“ empfand, als die im letzten Jahr, in der es auch einige auf gebrachte Kommentare und eine heftig geführte Kontroverse gab, nachdem ein Betroffener eingeworfen hatte, alle Psychiater seien als Feinde zu betrachten und zu bekämpfen. Diese Zuspitzung blieb dieses Jahr aus. Dass es diesmal anders war, ist sicher auch ein Zeichen dafür, dass die Referenten die Anliegen der Betroffenen wahrgenommen haben und Themen behandelt wurden, die den Teilnehmern wichtig waren, in einer Weise, die ihre Zustimmung fand. Für jeden war etwas dabei, die Atmosphäre war gut, und das Motto der Tagung: „Papier ist geduldig, Gesetz und Wirklichkeit“ war besonders im Vortrag von Dr. Strate sehr gut aufgegriffen und eindrucksvoll belegt worden.