Ein Interview mit dem kritischen Psychiater Dr. Volkmar Aderhold
Dr. Volkmar Aderhold, einer der bekanntesten deutschen Psychiatriekritker hat im vergangenen Jahr dem alternativen Freiburger Radiosender Radio Dreyeckland ein Interview gegeben. In diesem spricht er über Medikamente, die psychiatrische Vesorgung in Deutschland und anderen Ländern sowie über Ideale, wie Behandlung aus seiner Sicht eigentlich aussehen sollte. Das Zwielicht druckt Auszüge dieses Interviews ab. Am Ende finden Sie den Hinweis, wie Sie das Interview in voller Länge anhören können.
Mirko Olostiak-Brahms
Hallo und herzlich willkommen zu ‘VielFalter – Magazin gegen Monokultur’, hier im Gruppenradio von Radio Dreyeckland, die Sendung vom 28. Juli 2016, am Mikrofon Mirko Ološtiak-Brahms. Heute mit einem Gespräch mit Dr. Volkmar Aderhold.
Dr. Volkmar Aderhold
Ich bin Psychiater in Deutschland, dem die Psychiatrie am Herzen liegt, der relativ viel in der Psychiatrie gearbeitet hat und sich vor 9 Jahren entschlossen hat, die Institution zu verlassen. Den Rest meiner Arbeitszeit verbringe ich damit, durch Fortbildungen, durch Vorträge, durch Schreiben den Versuch zu machen, das System ein bisschen zu verändern. So würde ich mich vielleicht sehen.
Mirko Olostiak-Brahms
Vor ein paar Jahren habe ich Volkmar Aderhold vor allem in der Debatte über frühzeitige Sterblichkeit durch Neuroleptika wahrgenommen. Also: Neuroleptika verkürzen die Lebensdauer der Menschen, die diese Substanzen auf Dauer nehmen, um beträchtliche Zeit. Inzwischen sehe ich Herrn Aderhold vor allem im Zusammenhang mit „Bedürfnisangepasster Behandlung“ beziehungsweise dem „Offenen Dialog“ und seinem Engagement dafür.
Dr. Volkmar Aderhold
Es gab diese Zwei-Wege-Strategie schon immer. Also das, was ich jetzt mache, habe ich versucht und in Gang gesetzt schon vor der Neuroleptika-Geschichte. Dann kam die kritische Auseinandersetzung mit Neuroleptika. Also die Mortalität, dann überhaupt die Dosierung. Die Frage: Wird das Gehirn geschädigt? Wird es dadurch geschrumpft? Das war die letzte größere Geschichte. Daneben war immer die Frage: Was braucht es eigentlich für eine Psychiatrie? Das war für mich immer eine Zwei-Wege-Strategie.
Mirko Olostiak-Brahms
Du hast ziemliche Kritik an der Psychiatrie, wie sie ist oder was sie bisher war, und du propagierst einen Weg, der nennt sich Need Adapted Treatment oder Bedürfnisangepasste Behandlung.
Dr. Volkmar Aderhold
Die Liste der Kritik an der Psychiatrie könnte eine ganz lange werden. Sie benutzt Medikamente in einem Ausmaß und in einer Weise, die Menschen schädigt – in relativ vielen Fällen-, und sie kümmert sich nicht darum, therapeutische Kontexte zu schaffen, wo man Neuroleptika und andere Medikamente runterfährt. Einen zu hohen Gebrauch von biologischer Psychiatrie und einen viel zu geringen Gebrauch von Beziehungspsychiatrie. Für mich hat das immer eine Waage – die brauchen sich beide, aber das Pendel ist in Deutschland – und in vielen andern Staaten auch – viel zu sehr im Biologischen. Es erscheint als einfache Lösung, die zum Problem wird. Daraus leite ich ab: Schlechtes Behandlungsergebnis, Chronifizierung von Menschen, wo wir besser sein könnten. Menschen kommen nicht in ein autonomes Leben, nicht auf den Arbeitsmarkt, die es könnten. Sie kommen nicht weg von der Psychiatrie. Menschen kommen nicht in den Sozialraum, in die Normalität des Lebens. Menschen kommen viel zu häufig in gesetzliche Betreuungen, kommen in Unterbringung, kommen in Fixierung, wo das anders gehen würde. Wir sind im Outcome dieser relativ teuren Psychiatrie ausgesprochen schlecht. Und wir verkleistern das, stellen uns dem nicht. Jeder redet es schön. Also es geht erst mal um Aufklärung und um sich dem stellen.
Mirko Olostiak-Brahms
Es wird sehr viel Geld ausgegeben und dieses Geld verpufft wirkungslos oder richtet sogar Schaden an?
Dr. Volkmar Aderhold
Man könnte mit dem Geld viel besser arbeiten und viel mehr für die Menschen rausholen, als uns das gelingt. Es gibt ja sogar Leute wie der Däne Gøtzsche, der sagt: Einige Dinge sollten wir schlichtweg lassen. Dann wären wir besser. Der sagt sogar: „Verbietet die Neuroleptika! “ Soweit würde ich nicht gehen, aber weniger wäre mehr.
Mirko Olostiak-Brahms
Zumindest achtzig Prozent der Medikamente, die verabreicht werden, könnte man weglassen und das wäre besser?
Dr. Volkmar Aderhold
80? Ja, also ich würde mich auf 60 bis 70 runter handeln, aber ich würde über 50 gehen. Ab da müsste man sehr genau gucken, in welchen Bereichen. Vielleicht käme am Ende doch 80 raus – da würde ich
mich jetzt nicht festlegen, weil das habe ich mir noch nie so durchgerechnet.
Mirko Olostiak-Brahms
Du bietest eine Fortbildung an im „Offenen Dialog“. Das ist ein Modell, das in Finnland schon lange praktiziert wird. Mit sehr guten Ergebnissen eigentlich. Kannst Du uns darüber was erzählen?
Dr. Volkmar Aderhold
Das ist vielleicht die Form der gemeinsamen Arbeit mit Menschen mit Psychosen in ihrem natürlichen Umfeld, die für mich seit ungefähr 20 Jahren den größten Sinn macht. Ein Mensch kommt in die Krise und das Erste was man tut ist, im sozialen Raum der Menschen alle, die um diesen Menschen in der Krise Bedeutung haben, in das gemeinsame Tun einzubeziehen. So viele wie möglich und wie der Klient selbst für sinnvoll hält und natürlich auch annehmen kann. Von dieser Logik aus – was ist dieser Mensch, was sind die anderen, was ist passiert und wie können die sich gemeinsam aus dieser Krise herausbewegen – das ist der zentrale Punkt und dafür stellen sich die Profis zur Verfügung.
Mirko Olostiak-Brahms
In Finnland hat diese Methode zu sehr guten Erfolgen geführt, die aber meines Wissens nirgendwo so reproduziert werden konnten.
Dr. Volkmar Aderhold
Die nirgendwo reproduziert wurden! Das hat damit zu tun: Auch in Finnland war es mal über diese Bedürfnisangepasste Behandlung eine landesweite Bewegung für Menschen mit Psychosen. Das war in den 80er Jahren. Da hat man gezeigt, dass diese Methode Betten deutlich reduziert, so um die Hälfte. Und Chronifizierungen um 60 Prozent. Und dann kam diese spezifische Methode des Offenen Dialogs.
Die begrenzt sich auf drei bis vier Regionen. Und eine Region in West-Lappland hat das zur Perfektion getrieben. Die sind wirklich gut, die sind seit 25 Jahren dabei. Die machen das. Sie haben schon einen
Generationenwechsel vor sich oder sind mittendrin. Und die haben ein Forschungsprojekt gemacht. Also 3 Mal diese Teams und die Klienten über zwei Jahre, einmal über 5 Jahre, einmal in den 90er Jahren, zuletzt im Jahre 2005, also 3 mal eine Gruppe von 30 bis 50 Menschen auch wissenschaftlich beforscht und das Ergebnis erfasst. Und da kamen eben diese besonders guten Ergebnisse raus: 75 % der Leute sind auf dem Ersten Arbeitsmarkt angekommen und 85 % sind arbeitsfähig aus diesem Behandlungsprozess herausgekommen – mit sehr geringen Hospitalisierungsraten. Das ist ein sehr komplexes gemeindepsychiatrisches Modell, und diese Praxis ist an keinem andern Ort bisher erneut beforscht worden. Das geht jetzt los.
Mirko Olostiak-Brahms
Es gibt ja schon seit längerem Kritik an der Psychiatrie. Das ist ja nichts Neues. Antipsychiatrie war Mitte der 60er Jahre schon fast ein Hype, kann man sagen. Ronald Laing hat in London eine Therapeutische Wohngemeinschaft aufgemacht, nicht-hierarchisch. Es gab die Soteria in Kalifornien. Die beide auch in gewisser Weise erfolgreich waren, aber auch beide aus finanziellen Gründen nicht mehr fortgeführt werden konnten. Das heißt, es gibt schon länger Ansätze, die nicht auf medikamentöse Behandlung setzen, sondern nur am Rande darauf.
Dr. Volkmar Aderhold
Soteria ist doch letztlich auch aus Gründen zum Scheitern gebracht worden, weil es einfach das System bedroht hat. Das würde ich schon so sagen. Also nicht, weil das Geld nicht da war. Sondern das Geld wurde nicht bereitgestellt, weil Soteria nicht sein sollte. Das war damals revolutionär und bedrohlich. Damals hatten wir noch eine Situation, wo die meisten Wissenschaftler absolut auf Neuroleptika gesetzt haben. Dass auch immer viel Versprechen in die Zukunft da war: Neue Substanzen, alles wird besser, und Soteria stört. Also, es ist nicht am Geld gescheitert, sondern am falschen Paradigma, am bekämpften Paradigma, das für die Biologische Psychiatrie bedrohlich wurde. Und jetzt kommt das schon wieder neu auf. Weil einfach Ernüchterung im Feld ist. Und das gibt uns eine Chance.
Mirko Olostiak-Brahms
Der Krankheitsbegriff ist wichtig, um abrechnen zu können, um Leistungen bewilligt zu bekommen, um überhaupt Arbeitsstunden bezahlen zu können. Sowohl Soteria als auch Offener Dialog sind doch eher personalintensiv. Da braucht man nicht nur eine Person, die die Verschreibung ausstellt und noch jemanden, der die Medikamente verabreicht. Man braucht eine ganze Gruppe von Menschen, die begleiten oder eben auch Gespräche führen.
Dr. Volkmar Aderhold
Ja, das kommt einem erstmal so vor. Es ist erstmal eine andere Ressourcenlogik. In diesem Modell beginnt man – platt gesagt – kräftig. Also die Antwort auf die erste Krise ist ein Versuch, hochgradig passend zu sein und alles zu tun, damit die Krise in der Normalität des Lebens aufgelöst werden kann. Und da können relativ viele Leute an Bord gehen. Wenn man das im Lebensraum nicht hinkriegt, dann würde man in diesem Idealmodell auf eine Soteria zurückgreifen. Es sind manchmal therapeutische Milieus notwendig, die die Ruhe und den Raum haben, um zu begleiten, um sich selbst in diesem etwas künstlichen Kontext zu finden. Das ist schon eine Situation, in der man relativ das Personal an den Anfang stellt. Was man aus den Zahlen verlässlich ableiten kann: dass der Ressourcenverbrauch am Anfang sich absolut rechnet. Wenn man da passgenau und intensiv ist, dann kommt man deutlich besser aus der Krise raus, deutlich mehr in Autonomie. Und am Ende, wenn das einem Modell gelingt, dann ist viel Personal am Anfang letztlich gar nicht soviel. Denn es ist insgesamt nicht viel Personal. Es kommt einem nur so vor. Das kann man sehr klar aus der Anzahl an Personal pro Bevölkerungsgröße errechnen. Für eine Bevölkerung von 56.000 Einwohnern haben die in Tornio 100 Mitarbeiter in der gesamten Psychiatrie. Einschließlich SGB 12, einschließlich Tagesstätten, einschließlich allem. Das ist sogar da schon weniger. Und wenn es einem Versorgungssystem gelingt, 75 % aller Menschen mit Psychosen auf den Ersten Arbeitsmarkt zu bringen, dann liegt darin sozusagen die Effektivität. Da rechnet sich das System gesellschaftlich dadurch, dass die Menschen auf die eigenen Beine kommen und für ihr Leben selber sorgen können. Deshalb: Es darf ruhig teurer sein am Anfang, weil es billiger wird am Ende.
Mirko Olostiak-Brahms
Das hat aber verschiedene Konsequenzen. Wir haben momentan einen riesigen Wirtschaftszweig Sozialpsychiatrie. Das heißt: wenn man die Leute erfolgreich behandelt, müsste man davon ausgehen, dass dort durchaus Leute arbeitslos werden.
Dr. Volkmar Aderhold
Ich glaube nicht, dass wir mit einer neuen Praxis jetzt die Arbeitsplätze von Mitarbeitern bedrohen. Ich kann persönlich sagen: Als ich 1982 in die Psychiatrie ging, war klar, die Psychiatrie ist ein Kostenfaktor, und man kann sich gesellschaftlich einbilden, wenn es weniger kostet und besser wird, dann freuen sich alle. Und es war eine ziemliche Ernüchterung, dass ich im Laufe der letzten fünfzehn Jahre erst langsam gemerkt habe: Das hat sich längst gedreht. Krankheit ist zur Ware geworden. Kliniken rechnen sich. Das
wusste ich zwar vorher schon, aber die rechnen sich so kräftig, dass man sie echt am Netz halten will. Chronifizierungen sind ein Geschäft, auch im SGB-12-Bereich. Dass sich letztlich die Handlungslogik perfide umgedreht hat und keiner daran interessiert ist, Menschen in Autonomie zu bringen, weil das System damit Geld macht. Das war am Anfang, als ich in die Psychiatrie kam, noch nicht so.
Mirko Olostiak-Brahms
40 Jahre nach der damaligen Enquete hat die DGSP jetzt endlich mal Absetzvorschläge für Neuroleptika rausgebracht. Auch da bewegt sich was. Können wir nicht die Hoffnung haben, dass sich auch im Bereich der Psychiatrie schrittweise etwas verbessert?
Dr. Volkmar Aderhold
Ja, absolut, da bin ich wieder Optimist. Wir haben im Augenblick die größten Chancen, seitdem ich in der Psychiatrie arbeite. Ich freue mich daran, dass ich das jetzt am Ende meiner beruflichen Zeit noch miterleben kann. Wir müssen aufklären darüber, wie schlecht die Psychiatrie ist. Sie wird schöngeredet, und da habe ich mir zur Aufgabe gemacht, auf möglichst viele Schwierigkeiten mit möglichst viel Aufklärung und Gegendarstellung zu antworten.
Mirko Olostiak-Brahms
Obwohl es den Leuten nicht wirklich schlechter geht, werden immer mehr Leute diagnostiziert. Der Verbrauch von Psychopharmaka ist in den letzten Jahrzehnten massiv angestiegen. Das ist vielleicht schon 10 mal soviel wie in den 80er Jahren. Da sieht man schon, dass das Geschäft eine ganz große Rolle spielt. Auch die Pharmaindustrie propagiert ja die Erkrankung oder Krankheiten. „Lasst Euch auf Diabetes untersuchen“, das dient dem Verkauf von Medikamenten genauso wie „Lasst euch auf Depression untersuchen“.
Dr. Volkmar Aderhold
Ja, die Versorgungsrealität ist ein Flickenteppich, die ist ernüchternd schlecht. Ich sehe die Suche nach dem neuen Paradigma im Bereich der Entwicklung. Da, wo Projekte entstehen, wo Psychiatrie neu gedacht wird. Immer noch nicht unheimlich offen, denn was den Alltag der Psychiatrie angeht, das weiß man ja auch, das schleppt sich immer lange hinterher. Und dass die Pillen im Augenblick immer noch das Schlachtschiff der Psychiatrie sind, der Rezeptblock, die Psychotherapie immer noch nicht in der Psychiatrie angekommen ist. Dass sich jeder Psychotherapeut die Patienten aussucht, die gerade auf der Warteliste sind, das sind einfach ernüchternde Tatbestände, die haben wir mit diesen neuen Ideen noch lange nicht verändert. Da braucht es jede Menge Druck. Kritik, Druck, Aufklärung …
Mirko Olostiak-Brahms
Okay, letzte Frage: Was wären denn die Schritte, die man sich von der Psychiatrie oder in der Psychiatrie wünschen sollte, wünschen kann?
Dr. Volkmar Aderhold
Erstens: Erfahrungsexperten ins System holen. Nicht nur irgendwo in einem kleinen Zimmer für ein Beratungs- oder Informationsgespräch, sondern in die Teams. Ernst nehmen. Das ändert Sprache und Denken. Als Klinik würde ich jede Möglichkeit nehmen, mich zu flexibilisieren. Der zweite Schritt: Multiprofessionelle Teams mobil im Lebensfeld. Raus aus den Institutionen. Der Dritte Schritt wäre, denen die therapeutische Kompetenz zu geben, nicht nur mit einem Klienten zu arbeiten, sondern in den Lebensorten der Menschen. Ressourcen aufzutun. Nächster Schritt: Medikamente runter fahren. Gute Psychotherapie auch in die Psychiatrie holen. Es gibt für jede psychische Störung ein wirksames psychotherapeutisches Verfahren. Diese Beliebigkeit, psychotherapeutische Versorgung aufzugeben und Psychotherapeuten genauso wie andere Berufe zu verpflichten, etwas sicherzustellen, was Menschen mit psychischen Erkrankungen betrifft.
Mirko Olostiak-Brahms
Was wäre noch ein guter Abschluss? Was fehlt noch?
Dr. Volkmar Aderhold
Geduld. Nicht aufgeben. Sich zusammentun. Betroffene mit einbeziehen. Professionen miteinander in Kontakt bringen. Die eigene Enge immer wieder aufzumachen. Und das System, da wo es Mist baut, auch unter Druck zu setzen und dies öffentlich zu machen, wie bei Fixierung, Unterbringung, schlechte Stationen. Eine Art von verkommener Psychiatrie auch zu skandalisieren, finde ich wichtig. Nichts schön zu reden. Und jeder findet garantiert an seiner Stelle irgend etwas, wo er seinen Beitrag leisten kann, um in eine Richtung zu kommen, die eine menschengerechte Psychiatrie entstehen lässt. Insofern kann jeder bei sich selber anfangen.