Autor:in: Christian Winterstein

Mieke

Mieke war süß und zutraulich. Heike und ihre Tochter Julia hatten viel Freude an ihrer Hauskatze. Auch in der Nachbarschaft war Mieke beliebt. So manch eine – einer Katze nicht unbedingt zuträglichen – Leckerei flog vom Balkon, wenn Mieke im Garten war. Heike und Julia mochten das nicht. Aber Mieke war keine Kostverächterin und biss wohlig schmatzend in das saftige Hähnchenfleisch oder in die Salamistücke. Sie revanchierte sich mit Mäusen, die sie im Garten fing und den Nachbarinnen und Nachbarn vor die Tür legte.

Die Menschen erfreuten sich an Mieke, wenn sie sich im Garten sonnte, und Mieke liebte es, sich von ihnen verwöhnen zu lassen. Es war ein schönes Katzenleben.

Von einem Tag auf den anderen änderte sich alles. Nachdem Heike Mieke morgens versorgt und in den Garten gelassen hatte, nahm sie die Autoschlüssel, zog die Haustür ins Schloss und kehrte nicht mehr zurück. Von einem Tag auf den anderen war niemand mehr in dem großen Haus. Julia wohnte inzwischen in einer anderen Stadt, wo sie studierte.

In den ersten Tagen und Nächten nach dem Verschwinden Heikes saß Mieke stundenlang verwundert vor der Terrassentür, lugte durch die Scheibe und miaute laut. Sie wurde unruhig und stieß ihren Körper gegen die Tür. Aber nichts tat sich. Die Nachbarschaft wunderte sich auch und half mit Leckereien und Milch in Schalen. Mieke streunte durch die Gärten und kehrte immer wieder zu ihrem Haus zurück – in der Hoffnung, dass ihr aufgemacht werde. Doch die Tür blieb zu.

Das Gerücht, was mit Heike geschehen sein könnte, wurde zur Gewissheit. In der Straße herrschte bleierne Stille, durch die nur Miekes verzweifeltes Miau drang. „Mieke weint wieder“, flüsterte man sich zu. Und es dauerte nicht lang, da sprachen die Menschen vom Tierheim.

Dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte. Andreas, ein Nachbar, nahm sich Miekes an, die schon völlig apathisch vor der Terrassentür lag. Andreas war ein verschlossener, wortkarger Mensch. Er arbeitete außerhalb der Stadt und hatte nur oberflächlichen Kontakt mit der Nachbarschaft. Bei gutem Wetter sah man ihn auf seiner Gartenbank sitzen, meist mit einem Kopfhörer über den Ohren. Er saß dort immer allein.

Andreas gab Mieke in seiner Wohnung ein Obdach. Er stellte ihr einen Fressnapf, eine Wasserschale und ein Katzenklo hin. Sie suchte sich, zunächst mit vorsichtiger Skepsis, einen gemütlichen Platz, den sie auf einer weichen Decke fand. Dort ruhte sie sich von den Strapazen der letzten Tage aus.
Obschon Mieke noch sehr, sehr lange zu ihrem Haus ging und durch die Terrassentür lugte, wurde sie bei Andreas allmählich heimisch. Und, so kurios es klingt, auch Andreas selbst wurde in seiner Wohnung heimischer. Mieke war der Grund, weshalb er so früh wie möglich direkt von der Arbeit nach Hause zurückkehrte und nicht wie sonst ins „Scooter“ ging, einer Bar mit Internet, wo er häufig genug versackte. Mieke musste versorgt werden, und Andreas spürte, dass sie sich freute, wenn er kam.

Das Zusammenleben der beiden klappte prima. „Meistens ist sie eine Samtpfote“, schrieb Andreas Julia, die froh war, dass Mieke in ihrem Revier weiterleben konnte. Wenn Julia in den Semesterferien zu Hause war, konnte Mieke wieder in ihr trautes Heim einziehen. Wenn die Ferien vorbei waren, lebte Mieke wieder bei Andreas.

Mieke und Andreas verlebten wunderbare Stunden miteinander. Nun saß er nicht mehr alleine auf der Gartenbank. Mieke schnurrte und schmiegte sich an Andreas heran, und er kraulte ihren Bauch, bis ihre Augen zu funkeln anfingen. „Was hat Mieke für ein Glück!“ hieß es in der Nachbarschaft. In Wirklichkeit war es aber ein beiderseitiges Glück für lange Zeit.

Doch dann wurde Mieke krank. Sie erbrach sich oft. Die vom Tierarzt verschriebenen Kügelchen gab Andreas in ihre Milch, doch Mieke schleckte konsequent mit ihrer Zunge drum herum, so dass sie in der Schale blieben. Immer mehr magerte sie ab, bis sie sich nicht mehr auf den Beinen halten und nur noch liegen konnte. Zum Schluss fraß sie gar nicht mehr und war nur noch Haut und Knochen.
Andreas informierte Julia. Julia wollte Mieke unbedingt noch einmal sehen, schließlich war sie mit ihr aufgewachsen. Ihre letzten Stunden verbrachte Mieke in dem Haus, in dem sie geboren wurde und einen großen Teil ihres Katzenlebens verbracht hatte. Julia und Andreas legten sie auf eine Decke auf den Wohnzimmerboden und setzten sich zu ihr. Ernstes und Trauriges besprachen sie. Zwischendurch zog Julia ihr Smartphone hervor und zeigte Andreas eine Filmaufnahme:

In spielerischer Manier erklimmt Mieke eine hohe Tanne bis zur Baumkrone und wiegt sich im Wind, mutig und elegant wie ein Leichtmatrose in den Wanten. Die Kamera schwenkt um, und Heike schaut mit weit aufgerissenen Augen, die Hände an die Brust gepresst, zu Mieke hoch. Plötzlich entlädt sich ihre Anspannung mit einem prustenden Lachen, in das auch Julia einstimmt.

Am späteren Abend schlief Mieke friedlich ein. Andreas und Julia fanden einen Karton, auf den Julia Blumenbilder klebte. Innen schmückte sie ihn mit Margeriten aus. Dann legten sie Mieke hinein.

Am nächsten Tag fuhren Julia und Andreas frühmorgens in ein Waldstück außerhalb der Stadt. An einer Stelle abseits des Weges gruben sie ein tiefes Loch und legten den Karton mit Mieke hinein. Dann schaufelten sie Erde drauf und bedeckten das Grab mit Zweigen und Ästen, die vom Tau noch nass waren. Anschließend gingen sie zum Urnengrab von Heike, das in der Nähe lag und dachten an sie.