Psychische Krankheit und psychisch erkrankt – es sind nicht wertfreie Ausdrücke, die die MitarbeiterInnen des psychiatrischen Milieus sehr oft verwenden. Neulich wurde ich anhand der Aufzeichnung einer Radio-Sendung wieder auf andere Möglichkeiten aufmerksam. An dieser Sendung haben sich Personen beteiligt, die Erfahrungen in den Kreisen der Psychiatrie gesammelt haben, sind aber gemäß der Ausbildung nicht ihre Mitarbeiter. Bereits der Titel der Sendung stellte die verurteilende Ausdrucksweise in Frage: Psychose: krank oder geistreich? Während des Sprechens fiel die Art des die Sendung leitenden Journalisten durch bewusst gewählte Formulierungen auf, wie zum Beispiel: Was meinst du, was hast du erlebt, Krankheit oder erweiterte Realität?
Und doch waren in der Aufzeichnung, die im Studio des Senders RadioWeserTV vorgenommen wurde, zwei grundverschiedene Meinungen zu vernehmen. Die Differenz bestand darin, ob die Interviews gebenden Personen für die Bezeichnung der von ihnen erlebten inneren Situationen die Sicht der Mediziner übernommen oder eine eigene Auffassung davon sich gebildet haben und sie in der Öffentlichkeit vertraten. In den meisten Fällen wählten die Interviewten für die Beschreibung ihrer Erlebniswelt vorurteilsfreie und nicht verurteilende Ausdrücke.
Die Autoren der Beiträge berichteten, dass die heftigen Erlebnisse sie völlig unvorbereitet überfielen und anfänglich jeweils eine nicht verständliche Welt ausgemacht haben. Im Verlaufe der Zeit hat eine von den Personen beispielsweise den Wunsch entwickelt, behutsam damit umzugehen, hinzuhören und hinzusehen sowie zu versuchen, eine Deutung dieser Welt für sich herauszufinden. Teilweise gelang ihr das. Eine andere an der Sendung Beteiligte berichtete von ihrem Bestreben, denken zu lernen. Sie hatte in ihrer Lage entdeckt, Gebrauch davon machen zu können, dass sie von umfangreichen inhaltlich auch ausreichend attraktiven Gedankengängen umgeben war. In einem weiteren Beitrag wurde hingewiesen auf eine Wahrnehmung der eingetretenen Tiefe im eigenen Leben durch das Erlebte, das in der Anfangszeit durchaus skurril erschienen war. Die Empfindung der Tiefe trat an die Stelle der Oberflächlichkeit.
Schilderungen, die in eigener Wahrnehmung und Erlebnissen nach Wert und Sinn suchen und aus dem Grund die in den psychiatrischen Kreisen gängigen Formeln stürzen, habe ich häufig von EX-INlerInnen gehört. Sie haben die urteilenden Inhalte beispielsweise durch das Verständnis einer seelischen Erschütterung ersetzt. Dies taten sie aus der Kenntnis der Prozesse heraus, die sie Zeiten lang in sich trugen. Eine Ärztin, die eine von den EX-INlerInnen noch heute betreut, hat der Auffassung einer Erschütterung harsch widersprochen und aus ihrer Perspektive heraus behauptet, dass man mit dieser Bezeichnung den Begriff einer sehr schweren psychischen Krankheit, wie die Psychose es ist nicht ersetzen darf.
Viele Betroffene erzählen auch über nötigende Seiten bestimmter Lebenslagen. Wie zum Beispiel eine Person das erlebt hat, als sie sich von ihren Gedankenimpulsen auf eine Straßenkreuzung geführt fühlte und dort den Verkehr überwachen und regeln wollte. Noch eine Besorgnis erregende Tatsache ist in meiner Erinnerung geblieben: die Aussage einer Betroffenen vom – durch die von ihr erfahrenen schockierenden Zustände – abgebrochenen Lebensweg.
Bei jeder Beschäftigung mit den Berichten aus dem eigenen Leben muss man den Aspekt der gesellschaftlichen Beteiligung am Leid einzelner Personen als Thema hinzunehmen und mindestens in diesem Sinn erwähnen: Die Fachkreise stellen die Diagnosen aus der Situation der Befangenheit in ihrer beruflichen Fach-Titel-Welt heraus. Auf dieselbe Weise kommen Erkrankten-Namen für uns als Betroffene zustande. Dass die Fachleute anhand ihrer Bezeichnungen eine Art Sortierung in Gleich- und Zweitrangige vornehmen, ist eine Tatsache. Alle, auch ganz junge Bewohner des Planeten, nehmen es wahr, dass sich hinter KRANK oder ERKRANKUNG nichts Schönes, Erfreuliches, leicht Umgängliches finden lassen kann. Sondern Bedrohung und Angst, die sich als Ausschluss äußern, und die durch die Weitergabe der Information an weitere gereicht werden.
Wie wir – TeilnehmerInnen an einer Sprachgemeinschaft – mit Begriffen umgehen, welche davon bewusst anwenden oder sie verwerfen, entscheiden wir selbst. Je nach Entschluss existieren in unserer Gesellschaft und in verschiedenen in ihr befindlichen Interessensgemeinschaften sowie Gedankenwelten einzelner Personen nicht einheitliche Welt-, Krankheits-, Zustands-, Entwicklungsbilder und Vorstellungen. Die heftigen Differenzen darin können, wenn auf dem Eigenen beharrt wird, und wenn die Einstellungen aufeinander zurollen, durchaus ihre Sprengkraft entfalten und zur Entladung bringen.