Autor:in: Anonym

Sie / DU – Wertschätzung, Abgrenzung oder Ausgrenzung?

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W A R U M? Warum zum Teufel siezt er mich die ganze Zeit? Ist es, weil ich eine Frau bin? W A R U M? Ist es, weil ich in seinen Augen immer noch eine Kranke bin? Ist es weil ich jünger bin? W A R U M? Warum siezt er mich? Alle anderen werden nicht gesiezt! Mein Kollege ist erst ein Jahr da und wurde von Anfang an geduzt. Warum werde ich gesiezt? Darf ich was sagen? Ist meine Meinung genauso viel wert wie die der anderen? Ich bin schon fast neun Jahre da! Ich werde immer noch gesiezt. WARUM???
Bin ich hier wegen meiner Kompetenz oder bin ich nur Beiwerk? Ist es weil die Anderen Akademiker sind und ich nur eine Ausbildung habe? Hält er mich für dumm?

Es brodelt. Es kocht in mir! Ich will was ändern! Aber ich traue mich nicht, etwas zu sagen. Ich bleibe stumm. Wie gewohnt.

Einmal tief Luft holen und alles von vorne betrachten…

Mit dem Erwachsenwerden kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem man plötzlich oder weniger plötzlich gesiezt wird. Für mich persönlich war es am Anfang sehr merkwürdig. Weil ich mich nicht so recht mit meinem Nachnahmen identifizieren konnte. Wie es Shakespeare Julia einmal so treffend sagen ließ „Romeo, leg deinen Namen ab, und statt deines Namens, der KEIN TEIL VON DIR IST …“ naja den Rest lasse ich mal weg.

Meine erste störende Begegnung mit dem “SIE”, war mit elf. Ich verstand nicht, warum ich meiner Psychotherapeutin alles Private und Intime von mir erzählen sollte, ich sie aber dabei siezen musste. Irgendwann fasste ich mir ein Herz und fragte sie, ob ich sie duzen dürfte, weil ich mich mit dem “Sie” so unwohl fühlte. Ihre Antwort lautete: „Nein.“ Sie ist in meinen Augen eine sehr gute Psychologin und erklärte mir, dass sie das “SIE” braucht, um die nötige Distanz zwischen Patientin und Therapeutin einzuhalten. Verstanden hatte ich das zwar, fand es schlichtweg einfach nur doof. Mir erschien es einfach merkwürdig, so vertrauensvoll Dinge zu erzählen, aber trotzdem so eine kühle Distanz zu spüren.

Je älter man wird, desto normaler wird es, dass man gesiezt wird. Übrigens wenn man von jedem jederzeit gesiezt wird, weiß man das man alt ist! ;)

Das SIE gibt es aber nicht nur im Bezug auf das Alter. Auch im Berufsleben spielt das SIE eine große, nicht zu unterschätzende Rolle.
Es zeigt dir, wo dein Platz ist.
In unserer Firma ist es ein buntes Durcheinander. Irgendwie gibt es Orientierung aber auch nicht so richtig. Ich persönlich empfinde es prinzipiell eher als eine Art Abwertung.
Letztens tauchte in der Tagestätte eine interessante Frage auf. Wird vielleicht je nachdem wie „krank“ man ist, entschieden, wer gesiezt und wer geduzt wird?
Meine erste Reaktion war ein klares „Nein, das hat doch damit nichts zu tun!“.
Die Frage beschäftigte mich aber noch tagelang. Ich kam nicht umhin, je länger ich darüber nachdachte, da doch vielleicht einen Zusammenhang zu sehen.
In unserem Haus gibt es Tagesstättenbesucher:innen, Maßnahmeteilnehmende und festangestellte Mitarbeitende. In der Regel werden die Tagestättenbesucher:innen und die Maßnahmeteilnehmenden gesiezt. Mitarbeitende, solange sie vorher nicht Maßnahmeteilnehmende waren (so wie ich) werden geduzt. An dieser Stelle könnte man das Raster „krank“ und „gesund“ tatsächlich als den Ausschlag gebenden Faktor sehen. Ich persönlich denke, dass es dabei eher darum geht, Distanz zu halten und professionell agieren zu können.
Vor kurzem wurde ich allerdings darauf aufmerksam gemacht, das wenn man in der Geschichte der Psychiatrie etwas zurück geht, so in die 60er 70er Jahre, könnte man das Siezen auch als ein Zeichen von Wertschätzung und Respekt verstehen. Damals wurden Patienten einfach geduzt, und das wohl eher nicht im freundschaftlichen Sinne. Als dort das SIE für alle eingeführt wurde war es wohl eher ein Zeichen für den Respekt gegenüber jedem Menschen der dort war. Egal ob „krank“ oder „gesund“.

Diesen geschichtlichen Aspekt kannte ich bisher noch nicht. Ich finde es ungleich spannender, wie vielschichtig das Thema doch betrachtet werden kann. Wieviel die eigene Wahrnehmung und die eigenen Lebenserfahrungen ein scheinbar eindeutiges Thema so bunt wie einen Regenbogen schimmern lassen kann.

Ich weiß, es gibt Vor- und Nachteile, was das Duzen angeht. Ich persönlich würde mir aber wünschen, dass sich unsere Gesellschaft mehr in die Richtung des einheitlichen Duzens entwickeln würde. In anderen Ländern ist das ja schließlich normal. Dort kommt man scheinbar auch ohne diese künstlichen Grenzen zurecht. Letzten Endes bleibt es zurzeit eher eine Geschmacksfrage, wie es praktiziert wird. Aber ein Wandel ist sicherlich möglich.

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