Es gibt eine Veranstaltungsreihe unter dem Schlagwort „Psychiatrie 2.0“, die im Abstand von mehreren Monaten an verschiedenen Orten in Bremen stattfindet und unterschiedliche Aspekte beleuchtet, die für die Weiterentwicklung der Psychiatrie wichtig sein könnten.
Hier jetzt eine kurze Zusammenfassung der Tagung am 3.8.16.
Angelika Lacroix, Pflegedienstleitung im Krankenhaus Bremerhaven-Reinkenheide berichtete von ihren Erfahrungen mit Genesungsbegleiterinnen (GN). Seit über fünf Jahren arbeiten dort inzwischen sieben GN auf den psychiatrischen Stationen. Die Rückmeldungen der Patienten zu den GN seien überaus positiv. Diesen gelängen es eher als den „Profis“ eine Beziehung auf Augenhöhe herzustellen, sie hätten Patientenrechte mehr im Blick und wären auch eher in der Lage, die Patienten in ihren positiven Kräften zu stärken und nicht den „kranken“ Anteil in den Vordergrund zu rücken. Dabei sei es aber wichtig, dass diese Grundwerte einer patientenorientierten Sichtweise nicht von den GN alleine gelebt würden. Frau Lacroix betonte, dass mit der Einstellung von GN insgesamt eine Veränderung in der psychiatrischen Behandlung im Klinikum Reinkenheide stattgefunden habe. Durch sehr viele Gespräche, Workshops und Fortbildungen sei es gelungen, modernere Ansätze in den klinischen Alltag zu bringen. Dieses sei auch notwendig, da ansonsten die GN mit ihrer Arbeit gegen eine Wand laufen würden. Dass dieser Prozess nicht einfach sei und einer permanenten Pflege bedarf, machte Fr. Lacroix sehr deutlich. Alleine durch die (in einer Klinik häufigen) Personalwechsel sei sie dazu gezwungen, immer wieder neu das Bewusstsein für eine menschliche Psychiatrie zu schärfen. Dabei sei es auch enorm wichtig, die GN bei ihrer Arbeit gut, intensiv und kontinuierlich zu begleiten.
Jörn Petersen von F.O.C.U.S. (steht für Fortbildung, Organisationsentwicklung etc., gehört zur “Initiative zur sozialen Rehabilitation”) sprach über die Erfahrungen der Initiative mit der Beteiligung von Psychiatrie-Erfahrenen. Dieses geschieht dort in vielen Gremien (auch Aufsichtsrat), in der Öffentlichkeitsarbeit, Fortbildung, Gruppenangeboten, Verbesserungs- und Beschwerdewesen sowie im Nutzerinnenbeirat. Hierbei wird Wert darauf gelegt, dass die Experten-aus-Erfahrung (Expas) für diese Tätigkeiten auch entlohnt werden. Damit eine gemeinsame Arbeit von Profis und Expas gut gelingt, sei eine Kultur des Miteinander nötig, die bewusst geschaffen werden müsse. So seien gemeinsame Essen und Feste wichtig. Auch hätte eine gemeinsame Tanzperformance von vielen Mitarbeitern und Expas zu einer Verbesserung geführt.
Das Anliegen eine Unabhängige Fürsprache- und Beschwerdestelle in Bremen einzurichten, trug Gerlinde Tobias vor. Diese soll es ermöglichen, dass Menschen eine Anlaufstelle haben, die in irgendeiner Form Schwierigkeiten in und mit dem psychiatrischen System haben. Die Stelle soll trialogisch besetzt werden. Für einen Antrag bei der Aktion Mensch fehlt den Initiatoren das Eigenkapital in Höhe von 131000 €. Frau Tobias erzählte auch etwas von ihrer eigenen Geschichte. Sie habe sehr viele Jahre im in leitender Funktion bei der Postbank gearbeitet, bis sie vor einigen Jahren erkrankte.
Jörg Utschakowski, der neue Psychiatriekoordinator der Stadt Bremen (zuvor bei F.O.C.U.S.) wies daraufhin, dass die Weltgesundheitsorganisation bereits 1978 festgelegt habe, dass psychisch kranke Menschen an der Psychiatrie zu beteiligen seien. Auch zitierte er eine Studie aus England, dass eine gute Beteiligung der Expas selbst bei Mittelkürzungen bessere Erfolge in der Behandlung bringe. Expas brächten Aspekte in die Behandlung, die von den Profis weniger und kaum gesehen würden. Sie hätte ein stärkeres Augenmerk auf Informations- und Wahlmöglichkeiten, auf alle möglichen Ebenen von Gewalt und Machtmissbrauch und hätten eine viel stärkere zukunftsweisende und hoffnungsgebende Haltung. Herr Utschakowski berichtete auch von seinen Bemühungen, Expas in die Gremienarbeit der staatlichen Behörden zu integrieren.
Henry Otto Rehder, ebenfalls ein Expa, brachte die Idee ein, das aus dem trialogischen Ansatz ein quadrologischer werden sollte, nämlich dass neben Betroffenen, Profis und Angehörigen auch Genesungsbegleiter dazugehören sollten.
In der abschließenden Diskussion wurde, ausgelöst durch die Schilderung einer Frau, die vergangenes Jahr in eine schwere Krise gekommen war, die Notwendigkeit einer Art Weglaufhaus besprochen, einem Ort, der, anders als die Rückzugsräume der GAPSY, auch ohne Verordnung eines Arztes aufgesucht werden kann.