Da komme ich mit jemandem richtig gut aus oder wenigstens leidlich. Und dann passiert´s, plötzlich und ab da ist für mich mit diesem Menschen alles anders als vorher. Der sagt etwas, die macht etwas, das drückt bei mir die Knöpfe. Ich finde das so empörend, dass er/sie in meinem Inneren von der O.K.-Welt in eine andere finstere Welt der Wut und vollständigen Ablehnung fällt, von “weiß” in “schwarz”. Dann tut es mir nur noch weh und ich bin seelisch und vielleicht auch körperlich radikalisiert. Hass und der dringende Wunsch, diesen Menschen nur noch zu meiden, stellen sich ein. Es folgen Tage oder Wochen der aggressiven Abgrenzung und innerlich auch der bangen Frage: Wie komme ich künftig ohne diesen Menschen klar? Denn er oder sie war vielleicht wichtig für mich.
Versöhnung scheint weder jetzt noch zukünftig möglich zu sein. Dieser Mensch ist in meinem Inneren von der weißen (idealisierten!) in eine schwarze Welt gekippt (dämonisiert) und es besteht die Gefahr, dass er oder sie dort für immer bleibt. Und das kaum zu Glaubende ist (und die Betroffenen kennen es trotzdem): Die positive Erfahrung ist weg; keinerlei Erinnerung an gute gemeinsame Erlebnissse und Eindrücke ist mehr da, alles ist nur noch negativ in Bezug auf diese Person. Passiert das öfters, führt es schlimmstenfalls zur Vereinsamung, denn früher oder später kann es mit jedem Menschen Enttäuschungen geben und dann muss wieder ein neuer Freund oder Freundeskreis gesucht werden, was für unsereins auch nicht leicht ist. Auch Weglaufen aus der Arbeit aus diesem Grunde ist sehr verbreitet bei Betroffenen. Just da kann es sein, dass wir sozial an unserem Hauptproblem dran sind.
Selbstkritisch gibt es dazu zwei Sachen zu sagen: Erstens: Wie wenig wird wahrgenommen, dass wir selbst auch nicht nur weiß (= ideal) sind, sondern auch graue und dunkle Seiten haben und uns wünschen, mit ihnen von anderen wenigstens toleriert und am besten angenommen zu werden? Wie wirken unsere Schwächen wohl auf die anderen? Zweitens: In der Psychologenklugheit heisst es, wir sind nicht in der Lage, bei anderen Menschen auszuhalten, dass sie zugleich gute und schlechte Eigenschaften haben und dass in Wahrheit dazwischen auch viel grau ist. Vielmehr sind wir noch bedürftig danach, dass eine Person im Ganzen ideal, also sozusagen “weiß” ist oder dass ein Menschen ganz böse = “schwarz” ist, dazwischen soll nichts sein. Eine einfache gespaltene Welt, übersichtlich, klar, sehr kindlich und weit entfernt von der anstrengenden Realität des Unklaren und Durchmischten. Je früher wir gestört sind, desto gröber und undifferenzierter kann unsere Sicht der Welt eingeteilt sein und diese Sicht hält das “Sowohl als auch” und die Grautöne nicht aus. Alles soll “entweder-oder” sein. Eine erwachsene Wahrheit aber ist, dass Menschen mehrdeutig oder sogar widersprüchlich in sich sind, was unserem schwachen Selbst aber enormen Stress bereitet.
Was kann man machen, um die abgrenzende Feindseligkeit zu lindern und eine allmähliche Wiederverständigung zu ermöglichen? Eine stark betroffene Frau sagte mir einmal: “Lege von allen Menschen, die irgendwie wichtig für Dich sind (Freunde, Bekannte, Kollegen, Nachbarn usw.) je eine Karteikarte an und schreibe alles Positive auf, was Du im Laufe der Zeit mit ihnen erlebst (Eigenschaften, Geschehnisse, Gefühle) usw. Eine positive Sammlung! In Stichworten oder maximal einem Satz je Punkt. In dem Moment der Krise, da mit einem von diesen Menschen das Kippen in die Schwärze geschehen ist, zieh die Karte von dieser Person und lies. Du wirst sehen, die Schwärze lindert sich.” – Das mache ich schon einige Jahre. Bei mir kommt es dann vor, dass ich ein, zwei Tage in der Krise die Karte nicht lesen will, weil mir auch diese Art der Begegnung mit dem Menschen dann zuwider ist – aber dann mache ich es doch und lese, was ich früher Positives aufgeschrieben habe.
Was bewirkt es? Es lindert die Total-Verteufelung. Auf den anderen wird wieder ein teilweise freundlicher Blick möglich. Die Erinnerungsstütze “positive Karteikarte” durchbricht mein brutales “entweder gut oder schlecht” ( = Schwarz-Weiß-Denken) und ermöglicht das erwachsene “sowohl als auch” ( = Ambiguität). Dann ist nach Tagen ein Kontakt wieder möglich, distanziert erstmal. Solange ich das mache, komme ich halbwegs mit solchen Krisen klar. Vernachlässige ich es, drohen mir meine inneren Dämonisierungen zum Abtrenner von der Welt zu werden.
Nun heißt das nicht, dass der andere, in dem, was er konflikttreibend getan oder gesagt hat auch recht hat. Es kann durchaus sein, dass sein Reden oder Handeln sehr negativ waren. Dies gilt es wahrzunehmen und den Mut zu haben, den Konflikt zu klären (was viele von uns – in Wahrheit aus Angst! – vermeiden und den Kontaktabbruch aus Dämonsierung zum Schutz nehmen, um sich der Konfliktklärung nicht stellen zu müssen). Sondern es heisst, sich aktiv daran zu erinnern, dass der andere nicht nur ein Schwein ist, sondern es wirklich mit ihm auch gute Erfahrungen gab und dies ein wichtiger Teil der erlebten Wirklichkeit ist. Retraumatisierungen können so stark sein, dass sie positive Erfahrungen wegwischen; diese positiven Seiten zu aktivieren und den Kontakt mit der vielseitigen Realität immer wieder herzustellen, ist der mühsame Weg der Genesung.
Diese Methode der positiven Karteikarte führt nicht in kurzer Zeit zum Ende der groben Verwundbarkeit und der Einteilung der Welt in schwarz und weiß. Sie ist keine Erlösung und kein Allheilmittel und möchte sogar gepflegt werden. Aber sie ist Teil der Selbsthilfe, die uns aus eigener Kraft früher oder später möglich ist. Sie kann helfen, innere Ambivalenz aushalten (Flüchten oder Standhalten) und dadurch Kontakte aufrechterhalten zu lernen, die uns sonst verloren gingen. Eventuell macht man das bei heftigen Konflikten für den Rest des Lebens, aber das ist besser als der flüchtige Kontaktabbruch. Die Mühe lohnt sich und ohne Mühe kommt keiner weiter. Ich finde, es ist keine Schande, seelisch krank zu sein, es ist eine Schande, daran nichts zu verändern.
Zusammenfassung: Als Ausweg aus der Dämonisierungsfalle ist die positive Karteikarte eine konstruktive Erinnerungsstütze zur Förderung der Ambiguitätstoleranz.