Trigger: Psychiatrie, Zwang, Selbstgefährdung
Lea De Gregorio setzt mit ihrem neuen Buch „Unter Verrückten sagt man Du“ ein Zeichen gegen Diskriminierung.
Sie fördert die traditionellen Ungerechtigkeiten in unserem Denken, Fühlen und Handeln zutage. Lea De Gregorio übt mit ihrem neuen Buch „Unter Verrückten sagt man Du“ Kritik an der Psychiatrie und Gesellschaft. Die freie Journalistin und Autorin wurde 1992 in Hessen geboren. Sie studierte Vergleichende Kultur- und Religionswissenschaften und schloss einen Master in Europäischer Ethnologie und einen zweiten in Philosophie ab.
In ihrem Buch beschreibt Frau Gregorio, wie sie an einer Umbruchstelle im Leben verrückt wird. Ihre Gedanken drehen sich frei im Kopf herum und sie erlebt schlaflose Nächte. Es gibt nur noch einen Ausweg: die Behandlung in einer Psychiatrie. Dort macht sie die Erfahrung, dass andere über sie bestimmen, entscheiden und sprechen. Sie fragt sich, ob sie sich dieser traditionalistischen Ordnung fügen muss, damit alles besser wird? Bei ihrer Suche nach einer Antwort gelangt sie an tabuisierte Orte der Geschichte. Sie setzt sich auf dem Weg dadurch mit unserer Sprache auseinander, befasst sich mit Philosophie und kämpft – gegen Ausgrenzung und Diskriminierung von Verrückten, einer viel zu lange übersehenen Minderheit.
In meiner Position als Redakteur habe ich die Autorin zu ihrem neuen Werk befragt.
Wann sind Sie das erste Mal mit einer Psychiatrie in Berührung gekommen?
Im Jahr 2012. Alles fing damit an, dass ich gar nicht mehr schlafen konnte. Ich habe total viel gelesen und war von vielen Dingen ganz begeistert. Es waren eigentlich schöne Zustände, doch ich hatte auch Ängste und vieles um mich herum kam mir plötzlich seltsam vor. Und dann habe ich mich in die Psychiatrie begeben beziehungsweise Angehörige haben auf Empfehlung eines Hausarztes hin eine psychiatrische Klinik mit mir aufgesucht.
Wo befindet sich die psychiatrische Klinik?
In Hessen, dort wo ich aufgewachsen bin. Ich habe damals in Berlin gelebt und dachte, dass ich bei meiner Familie zur Ruhe kommen könnte. Das hat jedoch nicht funktioniert.
Welche Erfahrungen haben Sie mit der Psychiatrie gemacht?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dort ein enormer Paternalismus vorherrscht. Das bedeutet, es wird bei allem über die Patient:innen entschieden. Ein vergitterter Balkon hat mir total Angst gemacht. Ich wollte dort nicht bleiben, denn ich habe sofort gemerkt, dass die Leute dort eingesperrt sind.
Ich war auf einer Akutstation und durfte nach einer Zeit nur in Begleitung raus. In den ersten Tagen haben die Ärzt:innen es für richtig gehalten, dass ich ganz dortbleiben sollte, obwohl ich vieles beängstigend fand. Ich hatte beispielsweise vor Männern Angst, die sich seltsam verhalten haben und viel älter waren als ich. Ich habe damals Hilfe gebraucht, weil mich dieser außergewöhnliche Zustand, den ich erlebt habe, überfordert hat. Aber an diesem Ort habe ich mich überhaupt nicht wohlgefühlt.
Wie stehen Sie zum Thema „Zwang“?
Ich habe in der Psychiatrie selbst keine Fixierungen erlebt, aber bei anderen solche Zwangsmaßnahmen beobachtet, und fand das sehr beängstigend. Und ich durfte anfangs – wie schon gesagt – die Station gar nicht verlassen. Ich habe diese Ohnmacht und die Situation in der Klinik als traumatisch empfunden und weiß, dass es sehr vielen Menschen so geht. Begründet werden Unterbringungen mit Fremd- oder Selbstgefährdung. Studien besagen, dass beides immer eine Auslegungssache ist. Offensichtlich ist auch, dass sich die Anwendung von Zwang in einzelnen Kliniken und zwischen den Bundesländern stark unterscheidet. Leider wird viel zu wenig berücksichtigt, was schlimme Psychiatrieerfahrungen bei Menschen hinterlassen können.
Ich war wegen Selbstgefährdung untergebracht und würde schon sagen, dass es in meiner ersten Verrückung tatsächlich Situationen gab, in denen ich mich in Gefahr gebracht habe. Aber die Frage ist, ob man Menschen wirklich dauerhaft hilft, wenn man sie einsperrt – viele begeben sich ja, wie ich, freiwillig in eine Klinik. Dann sollte dieser Aufenthalt meines Erachtens auch so gestaltet sein, dass Menschen dort auch freiwillig bleiben wollen, weil sie sich wohlfühlen und ihnen geholfen wird. Und Studien zufolge ist das Suizidrisiko bei vielen Menschen gerade nach der Entlassung erhöht.
Ich denke, wenn man in der Psychiatrie gewesen ist, erhöht sich bei vielen die Hoffnungslosigkeit. Viele leiden noch lange unter den negativen Psychiatrieerfahrungen. Hinzu kommt die Diskriminierung, viele ziehen sich deswegen zurück. Ich denke, dies sind auch Gründe für ein erhöhtes Suizidrisiko nach der Entlassung und dem sollte man dringend entgegenwirken.
Wie stehen Sie zu Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie?
Wenn es zu meiner Zeit schon „Hometreatment-Behandlungen“ gegeben hätte, wäre ich vielleicht nie in der Psychiatrie gelandet. Ich habe gemerkt, dass ich Hilfe benötige und versucht, zu meinen Angehörigen zu gehen, um dort zu schlafen. Wenn mir jemand von außen Zuhause geholfen hätte, hätte ich vielleicht die Psychiatrieaufenthalte vermeiden können.
Ich denke, dass es gleichzeitig weiterhin externe Orte geben muss, an die man sich in Krisen begeben kann. Oft ist es ja auch gut, aus dem vertrauten Umfeld herauszukommen – beispielsweise, wenn Angehörige überfordert sind oder wenn zwischenmenschliche Konflikte psychotische Gedanken auslösen oder verstärken. Laut der Hamburger „SuSi“- Studie zum subjektiven Sinn von Psychosen – führen viele Menschen psychotische Episoden auch auf Konflikte in Familien und Partnerschaft zurück. In einigen Fällen kann Hometreatment zur Psychiatrie sicherlich eine gute Alternative sein.
Wie wichtig finden Sie die Rolle von Psychiatrieerfahrenen und EX-IN-Genesungsbegleiter:innen?
Ich finde es ganz wichtig, dass Menschen, die selbst Erfahrungen gemacht haben, die als „krank“ gelten, in der Psychiatrie mitarbeiten, weil sie Betroffene nochmal ganz anders verstehen können. „Verrückte Zustände“ zeichnen sich ja dadurch aus, dass man die Welt anders erlebt als gewöhnlich, so jedenfalls könnte man es grob aus einer phänomenologischen Sicht beschreiben. Psychotisches Erleben z.B. lässt sich sehr schwer in Worte fassen, darum kann man sie Menschen, die das nicht kennen, auch so schwer beschreiben.
Zusätzlich zu Programmen wie EX-IN müsste es eine Entstigmatisierung geben, was Ärzt:innen und Therapeut:innen angeht. Wenn sie sich selbst „outen“, könnte man ihre eigenen Krisenerfahrungen als Erfahrungsschatz ansehen.
Ich hätte mir gewünscht, auf Ärzt:innen und Therapeut:innen zu treffen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich. Ich glaube, dass sich in der Psychiatrie viel ändern könnte, wenn Erfahrungswissen mehr geschätzt würde.
Wäre eine Reform der Psychiatrie notwendig?
Es gibt ja seit den 1970er-Jahren immer wieder Psychiatriereformen, die noch längst nicht abgeschlossen ist; mit vielen Ideen, die ausgebaut werden müssten. In meinem Buch stelle ich beispielsweise das Konzept der Soteria vor. Es müssten mehr solcher Alternativen geschaffen werden, aber dazu müsste Geld in die Hand genommen werden.
Wie könnte Ihrer Meinung nach eine Psychiatrie der Zukunft aussehen?
Ich bin nicht der Meinung, dass man Psychiatrie abschaffen sollte. Aber es sollte Menschen dort menschlicher und mit mehr Verständnis begegnet werden.
Nach wie vor herrscht vielerorts vor allem ein biologisches Verständnis von psychischen Erkrankungen vor. Anstatt Lebensfragen zu besprechen, die Menschen in Krisen beschäftigen oder philosophische Fragen, die sich meiner Meinung nach in diesen Zuständen oft ausdrücken, geht es in der Psychiatrie bis heute vorrangig um Medikamente und Genetik. Oft ist das Erleben dort, Gefühle und Gedanken zu verdrängen. Es ist schwer, überhaupt eine Therapeutin zu finden, die sich über Gedanken austauscht und versucht, sie zu verstehen, die man in solchen Krisen hatte.
Wer soll Ihr Buch lesen?
Eigentlich kann ja jede Person in der Psychiatrie landen, deswegen dürfte es für alle Menschen interessant sein. Ich denke, man sollte sich in der Gesellschaft mit der Psychiatrie auseinandersetzen und sie als ein gesellschaftliches Phänomen verstehen.
Das Buch kann Leute ansprechen, die sich für Philosophie und Kulturanthropologie interessieren, aber auch für Geschichte. Es geht in dem Buch auch viel um die NS-Zeit und um Erinnerungskultur. Letztlich ist es natürlich auch besonders interessant für Menschen, die im psychiatrischen System arbeiten und im besten Fall Änderungen anstoßen wollen. Und Psychiatrieerfahrene fühlen sich durch das Lesen vielleicht nicht weniger alleine.
Ist das Buch ein Ausdruck für Veränderungen in der Psychiatrie?
Ich verbinde diese Hoffnung damit und wünsche mir, dass auch Leute aufmerksam werden, die sich vorher nicht so viel mit dem Thema befasst haben. In unserer gegenwärtigen Zeit geht es ja viel um Diskriminierung. Auch die Form der Diskriminierung, die ich in meinem Buch behandele, sollte Eingang in den öffentlichen Diskurs finden.
Die Psychiatrie ist für viele eine „Black-Box“, womit man sich nicht sehr viel auseinandersetzt und oft gar nicht so genau weiß, was dort passiert. Ich denke, das Buch könnte ein Anstoß sein, etwas darüber zu erfahren, über Missstände aufzuklären und ins Gespräch zu kommen.
Warum haben Sie dem Buch die Überschrift „Unter Verrückten sagt man Du“ gegeben?
In dem Buch beschreibe ich eine Begegnung mit Dorothea Buck, die ich als Journalistin gemacht habe. Sie hat mir ihre Geschichte erzählt und am Ende des Interviews erzählte, dass ich auch Psychoseerfahrungen gemacht habe. Dann hat sie mir das „Du“ angeboten. Sie sagte, dass alle „Verrückten“ Du sagen. Ich habe oft erlebt, dass „Verrückte“ sich im gruppentherapeutischen Kontext duzen und den Therapeuten gleichzeitig siezen sollte.
Abschließender Gedanke ist: In meinem Buch geht es mir darum, einerseits eine menschliche Nähe zwischen „Verrückten“ auszudrücken und gleichzeitig das enorme Machtgefälle in Psychiatrien zu kritisieren.