Autor:in: Christian Kruse

Wenn die Sonne vom Himmel fällt

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Vor ein paar Tagen hatte Daniel bei mir vorbeigeschaut.
Das macht er von Zeit zu Zeit, wenn er mit Jemandem reden will.
Daniel ist siebenunddreißig, unverheiratet, lebt in keiner festen Beziehung, hatte nie Sexualpartnerinnen oder -Partner. Warum dies so ist, habe ich von Daniel bei seinen Besuchen erfahren dürfen.

Der Vater ist verstorben, da ist Daniel fünf Jahre alt gewesen. Seine Mutter hatte nach dem Tod des Ehemannes häufig wechselnde Bekanntschaften, immer mit der an ihn gerichteten Frage, ob er sich den Mann als seinen neuen Vater vorstellen könne.
Daniel wuchs als jüngster von drei Brüdern in einem Umfeld auf, das Sexualität nicht thematisierte, und wenn, dann in verstörenden Anspielungen oder mit herabwürdigenden Äußerungen.

Die Brüder, die den Vater als streng-autoritären Patriarchen noch erlebt hatten, lebten in einer Welt aus Arbeit, Sport und Alkohol, in der sich kein Platz für Partnerschaften fand

Die Mutter wurde von Daniel als eine überbesorgte Frau beschrieben, die ihm noch mit zwölf seine Haare kämmte und die Fußnägel schnitt.
Alles in allem waren dies keine guten Voraussetzungen für eine normale Beziehung.
Wenn ich hier den Begriff normal verwende, dann steht er im Zusammenhang mit gegenseitigem Respekt, Vertrauen, Nähe und Wärme geben und zulassen können. Zu all dem war Daniel nicht fähig, und das machte ihn traurig, wütend, depressiv.

Wie gerne hätte er mit einem Menschen eine glückliche Gemeinsamkeit erlebt, vielleicht auch eine Familie gegründet, so wie er es mitunter bei Anderen sehen konnte, oder wie es, und dabei musste er lachen, Werbung und Hollywoodfilme vormachten.
Mit neunzehn Jahren fand er Anschluss an eine Gruppe Hooligans, deren Zusammenhalt aus Stadienbesuchen und Trinkgelagen bestand. Als er mitbekam, dass dort pornographische Darstellungen mit Kindern kursierten und junge Frauen unter K.O.-Tropfen gesetzt sexuell misshandelt wurden, brach er angeekelt den Kontakt ab.

Er trank exzessiv weiter und fing an Kokain zu schnupfen, um auf der Arbeit leistungsfähig zu bleiben. Kurz nach seinem 30sten Geburtstag begab sich Daniel in psychiatrische Behandlung, weil die Welt, so bezeichnete er es, “begann, Stück für Stück auseinanderzubrechen”. Er wurde arbeitsunfähig geschrieben, bekam Pharmazeutika verordnet und zog sich auf sein Sofa zurück, rauchte stangenweise Zigaretten, bestellte Pizzas vom Bringdienst und nahm an Gewicht zu. Wenn im Fernsehen eine Liebeskomödie gezeigt wurde kam es vor, dass Tränen seine Wangen hinabflossen.

„Ich habe das Gefühl, dass die Welt hier eine Ansammlung von Illusionen ist“, beschrieb er seine Situation bei einem seiner selten gewordenen Besuchen, „so wie in dem Film, wo der Protagonist eines Tages herausfindet, dass alles nur aus Attrappen besteht, als ein Scheinwerfer, der die Sonne darstellt, herunterfällt.“
Diese Illusionen, führte er weiter aus, werden durch gesellschaftliche Zwänge aufrecht erhalten.



Wer nun in so einer Gesellschaft existieren will, muss lernen mit ihnen zu leben, sie als ungeschriebene Gesetze akzeptieren.

Auch der viel zitierte Individualismus unterliegt diesen Gesetzen: Spaß. Unterhaltung. Lachen. Jubeln und Schreien im Stadion oder auf Konzerten ist angesagt, Verzweiflung und Trauer zu zeigen ist dagegen verpönt.
Hinzu kommt die Erwartung ständig leistungsfähig und -bereit zu sein und nicht durch Müßiggang „dem lieben Gott die Zeit zu stehlen“ oder gar dem Staat auf der Tasche zu liegen.

Daniel sagte, er fühle sich nicht dazu bereit diese Zwänge auszuhalten. Danach habe ich ihn mehrere Monate nicht mehr gesehen.

Als Daniel nun beim letzten Mal hereinschaute, saß mir ein völlig veränderter Mensch gegenüber.

„Ich habe eine Frau kennengelernt“, berichtete er strahlend vor Freude.
Sie hätten sich viel zu erzählen, gingen oft miteinander spazieren oder auch Kaffee trinken. Körperliche Nähe würde sie aufgrund traumatisierender Kindheitserlebnisse ebenso unangenehm empfinden wie er.
Aber, und das war für sie beide wesentlich wichtiger, spendeten sie sich in schweren Zeiten Trost und konnten sich neue Zuversicht geben. Aus dieser Situation heraus ist es ihnen möglich gewesen ihre Medikation zu beenden.

Von Daniel kam der Anstoß, seine Geschichte aufzuschreiben und öffentlich zu machen, da er der festen Überzeugung ist, dass es viele Menschen gibt, die in dieser Welt leben und meinen den herrschenden Zwängen um jeden Preis gerecht zu werden. Vielleicht würden seine Gedanken sie dazu ermutigen zum Himmel hinaufzuschauen, um dort die reale Sonne scheinen zu sehen.

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