Fachtag Psychiatrie beschäftigt sich mit Stärkung der Selbstbestimmung in der psychiatrischen Versorgung
„Die Anwendung von Zwang in Institutionen ist ein Ausdruck von Ohnmacht“, sagte Kirsten Kappert-Gonther (Bündnis 90/Die Grünen) beim Fachtag, der bei F.O.K.U.S. stattfand. Das Thema lautete „Stärkung der Selbstbestimmung in der psychiatrischen Versorgung“. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sitzt im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags. „Ich habe ein Herz für Menschen in schwierigen Lebenssituationen“, sagte Kappert-Gonther zum Auftakt der Veranstaltung. „Von einer Garantie der Nichtdiskriminierung sind wir noch weit entfernt. Wir haben enorme Drucksituationen in der Gesellschaft durch die Corona-Krise oder der Klimakrise. Diese gefährdet dramatisch unsere körperliche Gesundheit, besonders unsere Seele.“ Die Erderwärmung erhöhe beispielsweise die Depressivität und die Hitzewelle führe zu einem Anstieg der Aggressivität. Kappert-Gonther verwies auf drei Aspekte: Jede Person kann psychisch krank werden, Medikamente lösen nicht die Probleme von psychisch Kranken und Gesundheit entwickelt sich immer im Alltag und Kontext der Lebenssituation. „Autonomie hängt immer davon ab, wie wir mit uns selbst umgehen. Der Mensch, der wirklich frei sein und sein Leben leben möchte, kann es nur allein mit sich selbst machen. Zwang ist eine Begrenzung der Selbstbestimmung.“ Und Partizipation bedeute, dass Autonomie, Selbstbestimmung und Teilhabe möglich sei.
Für Jörg Utschakowski, Referent für Psychiatrie und Sucht bei der Senatorin für Gesundheit, Verbraucherschutz und Familie, ist Zwangsvermeidung auch ein sehr wichtiges Thema. „Wir müssen Genesungsbegleiter:innen in den Kliniken beschäftigen und Psychiatrieerfahrene beteiligen, weil sie dazu beitragen, sehr differenziert auf strukturellen und subtilen Zwang zu schauen“, machte er deutlich. Es gehe um Vorgehensweisen, in denen Zwang angedroht werde, wenn Medikamente nicht freiwillig genommen werden. „Da machen wir bisher gute Erfahrungen und wollen diesen Bereich noch ausbauen.“
Franz-Josef Wagner, Vorsitzender der NetzG, meinte zum Thema Selbstbestimmung: „Alles, was zur Lebensqualität für uns gut ist, ist erlaubt. Nur Lebensqualität definiert jeder selbst, es darf nicht Fremddefiniert werden. Es darf auch nicht im Sinne von ´mit welcher Diagnose und Behandlung kann der Behandler am einfachsten das meiste Geld verdienen´sein.“
Für Ulrich Krüger, Vorsitzender Aktion Psychisch Kranker (APK), ist das Thema Selbstbestimmung ebenfalls „äußerst wichtig“. Er appellierte an die Teilnehmer:innen des Fachtages: „Zwang darf nur als allerletzte Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, das ist gesetzlich vorgegeben. Viel zu häufig werden andere Möglichkeiten übersprungen.“ Das Markenzeichen der APK sei, die Fokussierung auf die einzelne Person, so Krüger. „Wichtig ist, dass wir den Weg zu einer Selbstbestimmung hin ebnen. Hier müssen wir verstärkt nach Möglichkeiten suchen. Zudem müssen wir stärker Angehörige mit einbeziehen und mit ihnen zusammenarbeiten.“
Auch für den Psychiater Matthias Heißler darf Zwang nur als letztes Mittel erfolgen, wenn alle anderen Maßnahmen ausgeschöpft sind. „Durch Aufsuchen der Patient:innen im Lebensfeld lässt sich die Behandlung für den Patienten und seine Bezugspersonen gewaltärmer, angenehmer, effektiver und mit nachhaltiger Wirkung gestalten. Außerdem wird dadurch Inklusion gewährleistet“, meinte Heißler. Erforderlich sei ein mobiles Kriseninterventionsteam, das binnen 24 Stunden im Lebensfeld des Patienten tätig wird. Die Teams müssten in der Lage sein, schnelle und verlässliche Hilfe zu gewährleisten. Jedoch brauche Leben mehr als mobile Krisenteams, Leben brauche mehr als Therapie. „Jeder Mensch will notwendig sein, jeder Mensch will für andere Bedeutung haben, jeder Mensch will in seinem Sein und Wirken beantwortet werden“, so der Facharzt für Psychiatrie. Zudem müsse der Kontext der Familie und der soziale Raum bei der Behandlung mit einbezogen werden. So spricht Heißler von einer „Post-Psychiatrie“: „In einer konventionellen Psychiatrie müssen Patient:innen ihren Kontext, ihr zu Hause verlassen, um Hilfe im Krankenhaus nachzufragen. In einer Post-Psychiatrie verlassen psychiatrisch Tätige ihren Kontext, die Klinik, während die Patient:innen in ihrem Lebensumfeld verbleiben können.“ Post-Psychiatrie sei nicht gleichzusetzen mit einer paradiesischen Psychiatrie, aber öffne den Weg, um zum Ort des Lebens der Patient:innen zu kommen, an dem Spannungen, Unbehagen, Disharmonien oder Inkonsistenzen in Leid und Krankheitssymptome umschlagen beziehungsweise ausgedrückt werden. „Zudem zahlt sich Post-Psychiatrie für alle aus, für die Patient:innen, ihre Familien, das Gemeinwesen sowie die Kommune. Dies lässt Inklusion entstehen.“
Auf die Frage, „Wie kann eine psychiatrische Versorgung mit weniger institutionellen Zwängen aussehen?“, äußerten sich einige geladene Gäste aus dem Bremer psychiatrischen Versorgungssystem, die auf dem Podium darüber diskutierten. So meinte Wolfgang Rust, Geschäftsführer des ASB Seelische Gesundheit: „Wir müssen psychisch Erkrankte in ihrer verstandenen Umgebung unterstützen, damit ist die Ambulantisierung gemeint.“ Er beobachtet, dass in der strukturellen Arbeit noch zu viel nebeneinander her gearbeitet werde. „Deswegen müssen wir gemeinsame Teams bilden.“ Martin Zinkler, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Bremen-Ost (KBO) sagte: „Der Weg nach Hause ist besser, wenn wir die Türen öffnen. Und Gespräche mit allen Beteiligten – Pflegekräfte, Patient:innen und Ärzt:innen – sind sehr wichtig.“ Eine Mutter, deren Sohn eine psychische Erkrankung hat, warb dafür, dass Angehörige besser wahrgenommen und unterstützt werden. „Dann könnten Zwangsmaßnahmen vermieden werden“, so die Angehörige. Und Lars Peinemann, Vorsitzender der Landespsychiatrieerfahrenen in Bremen, machte deutlich: „Der Zusammenschluss von Psychiatrieerfahrenen ist ganz wichtig, denn sie setzen sich für die Patient:innen ein.“ So hat er die Form des Trialogs, bei dem sich Betroffene, Angehörige und Expter:innen austauschen, gegründet. „Ich bin froh, dass es diese Angebote gibt“, betonte er.