D2 – D4, D7 – D5, B1 – C3, C8 – F5, C1 – F4, B8 – C6. Erst mal ‘n Schluck Wasser. Meine Lippen und Zunge schmecken vom vielen Rauchen einfach ekelhaft. E2 – E3, G8 – H6. So ein Idiot. Man soll doch keine Pferde nach außen setzen. F1 – B5, A7 – A6, B5 schlägt C6, Schach, B7 schlägt C6, G1 – F3, E7 – E6, A2 – A3, A8 – B8, D1 – B1, A1 – C1, F8 – D6, G2 – G3, F7 – F6, H1 – H4, H8 – G8, E3 – E4, D5 schlägt D6, C7 schlägt D6, E2 schlägt E6, Schach – nein, Scheiße, warum habe ich bei Schwarz Dame und König falsch aufgestellt. Egal, das Spiel wäre sowieso als patt geendet. Ich spiele nämlich gegen mich selbst.
Ansonsten läuft bei mir fast alles so einigermaßen. Ich habe ein Dach über‘m Kopf, Essen, zu trinken, etwas Tabak, was braucht man mehr? Na ja, meine Freundinnen fehlen mir schon. Die eine heißt Nicole, die nächste Alkohol, die dritte Kokain, Nummer vier nennt sich Heroin und die allerwichtigste heißt Freiheit. Dafür habe ich eine neue: Langeweile. So ´ne Schlampe hab‘ ich ja noch nie gehabt. Sie hat widerliche Angewohnheiten: Schlaflosigkeit, Lustlosigkeit, schlechte Laune und ’ne Menge Kopfzerbrechen.
Aber, und jetzt kommt was total Positives: Ich bin endlich aufgewacht. Wenn ich wieder frei und therapiert bin, werde ich ein „normales“ Leben leben. Allerdings ohne Haustier. Ich möchte nichts und niemanden einsperren. Vielleicht kaufe ich mir auch ein Zelt und ziehe ein bisschen durch die Gegend, denn so ein richtiges Ziel habe ich noch nicht vor Augen. Oder doch lieber arbeiten, eine Frau aufreißen, Familie gründen, jeden zweiten Sonntag zu Schwiegereltern, um sich über die Arbeit, das Wetter und das Rezept des Apfelkuchens zu unterhalten und ab und zu einen der coolen Leserwitze aus der Bildzeitung zu erzählen? Also noch mehr Langeweile? Oder wieder zurück zu Nicole usw.? Nein, nicht zu Nicole. Arbeiten würde ich schon gerne. Ich weiß schon, was ich in meine Bewerbung schreibe: …, bin trockener Alki, Ex-Junkie, verschuldet, saß schon im Knast und freue mich auf ein Vorstellungsgespräch bei Ihnen. MFG… Gelächter!
Aber irgendwas muss doch klappen. Genau, die Fremdenlegion – Gelächter. Ins Kloster? Als Straßenmusikant, aber leider beherrsche ich nur Luftgitarre. Als Versuchskaninchen für neue Medikamente ist auch nicht gerade die Erfüllung meiner Träume. Als Hundefänger? Ach nein, ich möchte ja niemanden einsperren. Als Barkeeper? Aber da der einzige Laden, der mich nehmen würde, „Elbschlosskeller“ oder vielleicht noch „Goldener Handschuh“ heißt, lass‘ ich das lieber. Staubsaugervertreter? Nein, geht nicht, ich bin ja erst mal auf Bewährung draußen. Zeitungsreporter wäre wohl das einzige, was mir noch bleibt. Immer auf der Suche nach Sensationen, das gefällt mir, werde ich mal im Auge behalten.
Dann könnte ich mir auch richtiges Schreibpapier leisten!
Nun begreife ich auch das Zitat von E.M. Remarque, das ich kürzlich gelesen habe. Zitat Anfang: „Erst, wenn man nichts mehr erwartetet, war man offen für alles und ohne Furcht.“ Zitat Ende. Endlich habe ich wieder ein Ziel vor Augen, na also, geht doch. Wie schön es doch ist, im Knast zu sitzen und …!
Dieses Schreiben widme ich allen ziellosen Zivillisten sowie allen anderen Hilfsbedürftigen.
Dieser Beitrag wurde von mir höchstpersönlich verfasst.
Matthias Elsner
z.Zt JVA Izehoe (2002)
(Der 18 Jahre später verfasste Folgeartikel nennt sich „Etappenziel erreicht“ und befindet sich auch in dieser Ausgabe)