Autor:in: Christian Winterstein

Was vom Glauben übrig blieb

Wenn ich über Glauben, Religion und Kirche nachdenke, dann stelle ich zunächst fest, dass meine Kindheit und Jugend „katholisch“ waren. Ich war katholischer Messdiener, katholischer Pfadfinder und katholischer Schüler an einer katholischen Privatschule. In den Glauben wuchs ich durch das Gemeinde- und Schulleben und den Empfang der Sakramente: Taufe, Erstkommunion, Beichte und Firmung. Glaubensfest war ich nie. Der Draht zu Gott war immer von Zweifeln an seiner Existenz gestört. Als junger Mann trat ich aus der Kirche aus. Ganz ohne Groll. Fragen des Glaubens traten in den Hintergrund.
Wenn ich weiter über persönliche Erfahrungen nachsinne, dann kommen mir spontan Bilder, Erinnerungen und Geschichten in den Kopf, ganz ungeordnet; wie bunte Schnipsel, die mit Empfindungen verknüpft sind:

Kain erschlug Abel. … Die unbefleckte Empfängnis der Gottesmutter Maria. … Johannes der Täufer, der Mann aus der Wüste. … Der barmherzige Samariter. … Geschichten aus einer fernen Welt voller Wunder und Blut im Religionsunterricht. … Die blassgelbe Urinpfütze vorm Altar stammte von mir. Vor Aufregung hatte ich mir während der Erstkommunionsfeier in die Hose gemacht. … Peinliche Stille im Beichtstuhl. … „Du siehst aus, als ob du heulst“, raunte mir mein Bruder während der Messe einmal zu. Glaubensrituale stressten mich. … Die Zeltlager. Schon vor der Abfahrt hatte ich einen Kloß im Hals und Heimweh im Herzen. … Die Nächte am Lagerfeuer mit Fahrtenbuch und Wandergitarre. Morgens gab es Marmeladenbrot, so viel man wollte. … Kanufahrten und Schwimmen. … Zeckenalarm. … Der nächtliche Überfall, bei dem der Holzmast mit dem Pfadfinderbanner neben dem Kopf eines schlafenden Kindes einschlug. … Die aufgedunsene, vom Blitz erschlagene Kuh im Wassergraben. … Und wer warf den ersten Stein? Die Ehebrecherin. … Eine Frau, vielleicht war sie betrunken, krümmte sich weinend vorm Altar und rief nach Gott; woraufhin eine Nonne, die das beobachtete, die Polizei rief. … Und der dicke Küster stopfte sich nach der Messe die übriggebliebenen Hostien in den Mund. … „Schissel“ statt „Scheiße“ sagen, lautete die scheinheilige Parole. … „Lauter, Lauter“, schrie der in Stalingrad traumatisierte Musiklehrer von der Orgelempore herab. … Meine Klassenlehrerin, die stets ermutigte und unterstützte und der körperbehinderten Mitschülerin bei den Toilettengängen half. … Ein Pornoheft. Gefunden im Altpapier, das wir Pfadfinder für die Bolivien-Hilfe sammelten. Anschließend maßen wir die erigierten Schwänze mit dem Lineal. … Der erste Samenerguss. … Das erste Herzrasen, als die kluge und bildschöne Pfadfinderin ihren Kopf auf meinen Bauch legte. Ihr langes, dunkles Haar duftete herrlich. … Jesus randalierte im Tempel, der zu einer Räuberhöhle verkommen war. Wir stürmten eine McDonald’s-Filiale mit einer Arche Noah aus Pappkarton. Danach das große Besäufnis… Kanutouren im Herbst. … Der Gang über’s Wasser … durch die Nebelwand. Und dann war Schluss.
Blieb was?

Ja. Neben den persönlichen Erlebnissen bleiben für mich die Bibelgeschichten. Die Gleichnisse. Das Leben Jesu, sein Sterben und seine Auferstehung. Die Apostelgeschichten. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der es diese Geschichten nicht gibt. Vergebung und Nächstenliebe. Daran glaube ich. Auch ohne katholische Kirche.