Der Stadionsprecher von Werder Bremen spricht offen über seine Depression. Seit 40 Jahre leidet er an dieser Krankheit und hatte drei schwere Episoden.
Wenn die Profimannschaft von Werder Bremen im wohninvest Weserstadion vor heimischer Kulisse antritt, dann darf er nicht fehlen. Christian Stoll ist an der Seite von Arnd Zeigler die Stimmungskanone und häufig vor der Ostkurve anzutreffen. Nächstes Jahr feiert der Stadionsprecher Silberhochzeit. „25 Jahre bin ich dann tätig für den Verein. Und ich hoffe, dass es einhergeht mit der 1. Liga“ freut sich Stoll, der gebürtig aus Bremen-Vegesack kommt. Die 2. Liga sei zwar ganz schön, weil viele Duelle gegen Traditionsmannschaften stattgefunden haben, meint Stoll. Aber er findet, dass Werder in die 1. Liga gehöre. (Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview wurde im April 2022 geführt).
Durch eine Mischung aus Begabung, Glück, Zufall und Kontakt ist er an den Job gekommen: „Ich war damals Redaktionsleiter beim Hörfunksender Hit-Radio-Antenne und bin von einer Agentur angerufen worden.
Der Agenturchef sagte zu mir, dass ein neues Stadionfernsehen bei Werder Bremen eingerichtet werde und er daher einen Vermarktungspartner suche.“ Daraufhin hat sich Christian Stoll dieses Format zwei- oder dreimal angesehen. „Es gab zwei Moderator:innen im Stadion – nicht als Stadionsprecher:innen – sondern als Fernsehmoderator:innen, die das Fan-TV begleiteten.
Sie waren sehr bemüht, aber man merkte ihnen an, dass sie keine Beziehungen zu Bremen hatten. Beide kamen aus Köln.“ Sie seien freitags, vor den Samstagsspielen, nach Bremen gefahren und nach den Partien wieder nach Köln zurück. „Ich habe gesagt, die beiden machen das zwar ganz gut, aber ich stelle mir das anders vor. Und dann hat der Agenturchef mich gefragt, ob ich jemanden vorstellen könne, der es besser macht.
Daraufhin habe ich gesagt, derjenige steht vor Ihnen. Ich war damals sehr selbstbewusst.“ Die Chemie passte, weil Christian Stoll seit seiner Kindheit Werder-Fan ist. Mit fünf Jahren war er das erste Mal im Stadion – zusammen mit seinem Großvater, der selber Fußballer und Fußball-Fan war. Das Ganze spielte sich in der ersten Meistersaison ab. So wurde dem Verein Christian Stoll vorgeschlagen, was gut angekommen sei. Er hat dann parallel zu seinem Vorgänger Christian Günther als Stadionsprecher gearbeitet, und als dieser starb, suchte der Verein einen Nachfolger. Auf diesem Weg ist Stoll Stadionsprecher geworden und hat alles erlebt, was es im Fußball zu erleben gibt: Pokalsieg, Meisterschaften, bittere Niederlagen und den bitteren Abstieg. Das ist der eine Christian Stoll.
Der andere Christian Stoll leidet seit 40 Jahren an einer Depression. „Die ersten Symptome hatte ich mit 23 Jahren. Damals hatte ich gerade mit meinem Studium angefangen und wohnte in Mainz. Ich konnte gar nicht zuordnen, was es war“, beschreibt Stoll.
Zunächst wandte er sich an einen Arzt an der Universität; später dann an Fachärzte in Bremen, weil er dort aufgewachsen ist. „Ich war beim Internisten und beim Orthopäden – alle haben gesagt, ich sei topfit und hätte nichts.“ Niemand hatte eine Idee und wusste irgendwie weiter. Schließlich sind Jahre ins Land gegangen. Irgendwann hatte eine Freundin seiner Eltern, die Ärztin war, davon erfahren und diagnostizierte dann bei Christian Stoll Depression. „Damit war alles klar. Sie hatte mich dann entsprechend behandelt.“ Damals sei es noch gar nicht so schlimm gewesen, berichtet Stoll.
Er war auf dem Weg von Mainz zum Segeln und war richtig gut gelaunt. „Es war ein schöner Tag.
Doch plötzlich ist mir während der Fahrt auf der Autobahn ganz komisch geworden. Ich kann das gar nicht mehr beschreiben, wie es war. Ich hatte den Eindruck, mein Kreislauf bricht zusammen und bin dann rechts an einer Tankstelle herangefahren.
Das Segeln habe ich dann abgesagt und mich stattdessen in meiner ‚Studentenbutze‘ isoliert.“ Er konnte gar nichts mit sich anfangen, berichtet er weiter. Über die Jahre habe sich seine Depression in verschiedenen Variationen ausgeweitet. „Das kann man sich gar nicht vorstellen.“ Es hat dann drei Episoden in seinem Leben gegeben, die richtig schlimm gewesen seien. „Die waren so schlimm, dass ich es ohne ärztliche und klinische Hilfe nicht mehr aushalten konnte.“
Inzwischen hat sich Stoll mit Medikamenten und einer gewissen Lebens- und Arbeitseinstellung mit der Depression arrangiert. „Ich weiß, ich werde die Erkrankung nicht mehr los und sie wird mich bis zum Ende meiner Tage begleiten.
Aber ich werde versuchen mit dem ‚schwarzen Hund‘ irgendwie gut Freund zu werden, das geht mal besser und mal weniger.“ Momentan habe er eine ganz gute Phase, sagt er. Vor eineinhalb Jahren sah seine Situation jedoch sehr schlecht aus: „Ich war in der Tagesklinik, wusste nicht weiter, lag im Bett und hatte den Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden. Ich wünsche diese Krankheit niemandem“.
Seine Ärztin habe seine Erkrankung mit einer Batterie verglichen und zu ihm gesagt, er habe in seinem Leben immer Vollgas gegeben, immer voll gearbeitet. „Natürlich war ich immer sehr fixiert auf Karriere, auch auf ‚Kohle‘ und andere Dinge und habe die Batterie immer leer-gesogen. Und wenn eine Batterie nicht aufgeladen wird, dann ist sie irgendwann alle und so war es bei mir.“
Gegenwärtig ist er immer noch sehr ehrgeizig und möchte schöne Dinge erleben. „Ich weiß aber auch, dass meine Energie endlich ist und ich mit 62 Jahren nicht mehr der Jüngste bin. Daher treten auch Alterserscheinungen auf, so dass ich auf mich aufpassen muss.“, sagt Stoll und ist ganz nachdenklich. Nun will er den Rest seines Lebens mit dem ‚schwarzen Hund‘ in Einklang bringen.
Stoll arbeitet in vielen Bereichen, auch als Journalist. Er versucht einen vernünftigen Ausgleich zu finden. „Früher gab es nie ein Wochenende, das war einfach so und hat mich nicht großartig gestört“, sagt er. Jetzt versucht er die Dinge etwas anders anzugehen als früher und denkt trotz der Freude an der Arbeit mehr an sich. „Ich habe mehr freie Zeit, bin öfter daheim, treibe Sport, lese und sorge für mehr Ausgleich. Das hilft weiter und hat insgesamt auf eine angenehmere Lebensbahn geführt.“ Der Körper und Geist hätten erstmal Zeit gebraucht, um zu begreifen, was Depression für eine Krankheit ist. „Am Anfang wollte ich das gar nicht wahrhaben. Doch irgendwann habe ich mich mit meiner Erkrankung arrangiert.
Aber ich will nicht mit ihr ‚Kumpel‘ sein, sondern ich will, dass sie mich so einigermaßen in Ruhe lässt. Das tut sie nicht immer, aber meistens“, erklärt Stoll bildhaft.
Für seine Mutter war der Umgang mit seiner Erkrankung sehr schwierig. „In früheren Zeiten war es so: Man hat keine Depression“, berichtet Stoll. Sein Vater hatte mehr Verständnis für sein Krankheitsbild, denn er kam aus dem ärztlichen Berufszweig. „In der Verwandtschaft gab es solche und solche.“ Deshalb sei es wichtig, dass man klar formuliere, dass Depression eine genauso schwere Erkrankung ist wie Krebs, Schlaganfall oder Herzinfarkt, so Stoll. Insofern sei Öffentlichkeitsarbeit und Anerkennung dieser Krankheit enorm wichtig.
Ohne seine Frau und Freunde hätte Stoll die schweren Episoden seiner Depression nicht überstanden. „In all den Phasen hat es Menschen gegeben, die besonders zu mir gehalten haben“, berichtet Stoll.
Es habe aber auch Freunde gegeben, die mit seiner Erkrankung nicht umgehen konnten. „So gab es Leute, die gesagt haben, ‚sorry‘, ich komme damit nicht klar und kann mit Dir in solchen Phasen nichts anfangen. Das ist auch in Ordnung. Ich verlange nicht von jedem, dass sie oder er damit etwas anfangen kann. Manchmal trennt sich dann die Spreu vom Weizen.“ So hat Stoll Freunde verloren, aber auch welche gewonnen.
Einigen Arbeitgebern hat Stoll von seiner Erkrankung erzählt: „ Werder Bremen habe ich darüber informiert und den Deutschen Fußballbund (DFB), für den ich lange gearbeitet habe. Vom DFB bin ich allerdings enttäuscht. Von Werder’s Reaktion war ich sehr überrascht. Der Verein hat es positiv angenommen.“
Eine zeitlang war Stoll in der Klinik und anschließend in der Tagesklinik. „Dort war ich total ‚out of order‘, konnte und wollte nicht.“ Ob er heute nochmal in eine Klinik gehen würde, weiß Stoll nicht. Damals konnte er überhaupt nicht mehr, sodass seine Frau ihm einen Klinikplatz in Berlin besorgt hat. Denn inzwischen wohnen Stoll und seine Familie in Berlin. „Dort haben die mich erstmal heruntergefahren, was erstmal ganz gut war. Doch so eine psychiatrische Klinik ist eine psychiatrische Klinik. Also es ist nicht so lustig dort. Ich habe mich früher entlassen, als ich sollte.
Meine behandelnde Ärztin, die ganz gut war, sagte zu mir, dass ich eigentlich noch länger bleiben müsste. Doch ich wollte aus diesem ‚Surrounding‘ raus.
Nach all den Erfahrungen mit der Depression ist Stoll zu der Erkenntnis gekommen, dass man sich zu dieser Krankheit bekennen müsse. „Man muss den Mut haben, Verwandte, Freunde und der Öffentlichkeit gegenüber zu sagen, ich habe eine Depression und ich bin krank, bitte nehmt Rücksicht. Man muss lernen, sehr individuell mit dieser Krankheit umzugehen.“ Ihm hat der Sport immer sehr gut getan: „Ich bin nach wie vor leidenschaftlicher Sportler und gehe jeden Tag auf´s Rad. Auch in die Sauna gehe ich häufig, das tut mir gut.“ Und der Aufstieg von Werder erfreut Christian Stoll umso mehr, denn „wir haben eine tolle Mannschaft, einen tollen Spirit und die besten Fans.“