Einkaufen ohne Musikberieselung, Werbedurchsagen für Produkte sowie dezente Beleuchtung – das ermöglicht die „Stille Stunde“. In Hannover wurde das Konzept in einem Edeka-Supermarkt umgesetzt. Welche Reaktionen es darauf gab und wie die Idee zustande gekommen ist, das zeigt der folgende Artikel von Janne Eckhoff und Volker Althoff.
Der Geruch nach frischen Brötchen, die kühle Luft vor den offenen Kühlregalen und hell ausgeleuchtete Kühltruhen. Die Musik aus dem Supermarktradio wird von einem Werbespot unterbrochen und auf den Knopfdruck einer Kundin ertönt eine Durchsage: „Ein Mitarbeiter in die Spirituosenabteilung, Sie haben einen Kundenwunsch.“
Ein Einkauf im Supermarkt konfrontiert uns mit vielen unterschiedlichen Reizen, mit denen die meisten von uns mehr oder weniger gut zurechtkommen. Oft bemerken wir schon gar nicht mehr, wie viele Sinneseindrücke über die Dauer eines Einkaufs eigentlich auf uns wirken. Für manche Menschen kann diese Fülle an Reizen jedoch eine Überforderung darstellen, sie überwältigen und das selbstständige Einkaufen zu einem Problem werden lassen.
Aus diesem Grund bietet sich im EDEKA EssBerg 23 in der Hannoverschen Innenstadt an einem Sonntag im Juni ein ganz anderes Bild. Heute führt die Rolltreppe hinunter in einen stillen, abgedunkelten Laden. Nur die Beleuchtung der Sushi-Theke, Kühltruhen und -schränke spendet Licht. Bis auf das Brummen der Kühlsysteme ist nichts zu hören. Ein ungewohntes, aber angenehmes Erlebnis.
Auch wenn es in manchen Regalreihen schon ein wenig zu dunkel ist, wie Kundin Hana Hahne anmerkt. „Es war schon ein bisschen Stress, vor dem Regal zu stehen und irgendetwas zu suchen, aber es nicht richtig zu sehen“, erzählt sie. In ihrer Heimat Bad Münder arbeitet sie als Therapeutin und Coach seit vielen Jahren mit neurodiversen Menschen zusammen und ist an diesem Tag extra nach Hannover gekommen, um eine sogenannte ‘Stille Stunde’ miterleben zu können.
Abgesehen von der unzureichenden Beleuchtung in einigen Gängen ist sie begeistert. Auch Josefine Hartmann von Pro School, dem Initiator der Aktion, zieht eine positive Bilanz: „Wir hatten am Anfang ein bisschen Sorge, dass es nicht so gut angenommen wird. Sobald aber der erste Vater mit seinem Sohn im Spektrum den Laden betreten hat, haben wir gedacht, es hat sich jetzt schon gelohnt. Eine Person bringt schon einen Mehrwert.“
Ihre Kollegin Sarah Kölbel, die bei Pro School für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, erzählt, dass Presseberichte über eine Stille Stunde in neuseeländischen Supermärkten das Projekt in Hannover inspiriert haben. Tatsächlich wird Neuseeland in vielen Berichten als Ursprungsland der Stillen Stunde genannt. Dort hatte, so berichtet ZEIT ONLINE in einem Artikel aus dem Dezember 2019 die Supermarktkette Countdown im Oktober desselben Jahres in 180 Filialen eine ‘Quiet Hour’ eingeführt. Jeden Mittwoch zwischen 14:30 und 15:30 Uhr wird in den Geschäften die Musik abgeschaltet und das Licht gedimmt. Das Verräumen von Waren, das Einsammeln von Einkaufswagen und Durchsagen werden auf ein Minimum reduziert.
Unter Bezeichnungen wie ‘Quiet Evenings’ und ‘Autism Awareness Hours’ existieren ähnliche Konzepte für ein reizreduziertes Einkaufserlebnis auf den Britischen Inseln allerdings schon länger.
Neuseeland ist somit vielleicht „nur“ eines der Ursprungsländer, doch erst die Berichte über die Stille Stunde dort verhalfen dem Konzept zu größerer Bekanntheit.
In der Schweiz beispielsweise führten 2020 mehrere SPAR-Märkte ebenfalls eine Stille Stunde nach neuseeländischem Vorbild ein, nachdem der Verein Autismus Deutsche Schweiz bereits seit 2016 nach Partnern für ein vergleichbares Projekt gesucht hatte.
Pro School hatte, so erzählt Sarah Kölbel, mehr Glück bei der Suche nach Partnern in Hannover. Sie hatte die Anfrage für das Projekt als Rundmail stufenweise an mehrere Märkte geschickt und schnell eine positive Rückmeldung erhalten. „Daniel Bergmann, der Geschäftsführer der Filiale EssBerg, hat sofort geantwortet, war sofort dabei […] und hat uns direkt einen Sonntag angeboten.“
Bergmann selbst, der schon seine Ausbildung bei EDEKA gemacht und früh von der Idee eines eigenen Marktes begeistert war, berichtet, dass ihm soziale Projekte genau wie Nachhaltigkeit generell am Herzen liegen. Vom Konzept der Stillen Stunde war er sofort begeistert und hatte den Sonntag als passenden Tag dazu ausgewählt. Unter der Woche, so erklärt er, sei die Innenstadt voll und laut und sein Geschäft durch Laufkundschaft sehr belebt.
Keine guten Voraussetzungen für ein reizreduziertes Einkaufserlebnis. Mitarbeiter:innen für eine zweistündige Sonntagsschicht zu finden war hingegen absolut kein Problem. Er hofft nun darauf seinen Kund:innen noch häufiger eine Stille Stunde anbieten zu können. Mit ein paar kleinen Verbesserungen in Bezug auf die Beleuchtung, versteht sich. Seine Bilanz kurz vor Feierabend: „Man kann nicht sagen, damit mache ich Umsatz. Darum geht es mir auch nicht. Ich freue mich darüber, dass Leute die Chance haben, so einkaufen zu gehen… mal etwas anderes. Die Kund:innen, die jetzt in den Supermarkt reingegangen sind, waren alle positiv und haben sich gefreut.“ Er wünscht sich, dass sich das Konzept herumspricht und in Zukunft noch mehr Leute erreicht.
Darauf hofft auch Kundin Andrea aus Hannover. Sie ist Mutter von drei Kindern, von denen eines, Sohn Sebastian (13), mit dem sogenannten Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde. Für die beiden war der heutige Einkauf eine angenehme Erfahrung. „Ich finde die Stille Stunde ein ganz tolles Angebot. Ich glaube für meinen Sohn war es auch ganz gut, da es oft sehr voll und laut ist und man angerempelt wird. Man wird angesprochen, und das ist für meinen Sohn ganz schwierig. Er kann auch in ‘normalen’ Läden einkaufen, aber der Druck ist etwas ganz anderes.“
Sebastian selbst betont vor allem, dass er in der entspannten Atmosphäre die Gerüche von Produkten wie Obst, Gemüse und Gewürzen viel deutlicher habe wahrnehmen können, und seine Mutter stimmt ihm zu.
Josefine Hartmann, die seit zwei Jahren den Fachbereich Autismus bei Pro School leitet, freut sich sehr über diese Rückmeldung. „Menschen mit ASS haben eine Reizfilterstörung. Das bedeutet, dass diese Menschen viel sensibler auf bestimmte Reize reagieren“, erklärt sie. Diese Sensibilität gegenüber verschiedenen Reizen könne einen Einkauf schnell zu einem stressigen Erlebnis oder sogar zur totalen Überforderung werden lassen. Aus diesem Grund sieht sie die Stille Stunde als einen wichtigen Schritt in Richtung Inklusion und als eine gute Möglichkeit, die Gesellschaft für dieses Thema zu sensibilisieren.
Sie betont auch, dass Menschen mit ASS bei weitem nicht die einzige Zielgruppe der Stillen Stunde darstellen: „Auch für ADHSler, für Menschen, die Migräne haben oder einfach generell geräusch- und lichtempfindlich sind, wird die Stille Stunde auf jeden Fall ein Gewinn sein.“
Auch Kundin Andrea weiß von einigen Menschen zu berichten, die grelle Beleuchtung und Hintergrundbeschallung in Supermärkten als Belastung empfinden und auch Hana Hahne schließt sich dem an. „Ich glaube, dass es auch für normal-sensitive Menschen durchaus angenehm sein kann, in so einer reizarmen ruhigen Umgebung einzukaufen, in der nicht so viel Licht leuchtet oder wo es großzügiger ist und ein bisschen mehr Platz vorhanden ist und es nicht zu Rempeleien kommt.“
Zwar gibt es in Bremen bisher noch keinen Supermarkt, der das Konzept der Stillen Stunde umsetzt, der Alnatura-Markt im Bremer Viertel jedoch bietet seiner Kundschaft schon seit vielen Jahren eine reizreduzierte Umgebung für ein entspanntes Einkaufen. Die Kette habe von Anfang an das Prinzip eingeführt, dass es in den Märkten still sei, auf Musik und Lautsprecherdurchsagen werde grundsätzlich verzichtet und die Beleuchtung und die Farben dezent gehalten, so die stellvertretende Marktleiterin Wiebke Henning. „Das geht zurück auf unseren Gründer Götz Rehn, der ein ganzheitliches Konzept für die Kunden bieten wollte. Demnach sollen die Kunden sich auf das Wesentliche konzentrieren. Dazu gehört auch, dass möglichst viele Reize ausgeschaltet oder eben gar nicht an den Kunden herangebracht werden.“
Ähnlich sieht es auch im EDEKA-Markt Fehner Am Dobben aus: Musikberieselung, Ladendurchsagen oder Werbung für irgendwelche Produkte – Fehlanzeige. „Wir haben von Anfang an darauf verzichtet, weil viele Kund:innen sich schon vor Jahren dadurch gestört fühlten.
Sie wollten in Ruhe einkaufen gehen“, berichtet Inhaber Werner Fehner (68). Er sei nicht verpflichtet, Musik oder Werbung für Produkte laufen zu lassen, daher fiel es ihm leicht, sich an den Wünschen seiner Kunden zu orientieren.
Konzepte, die der Stillen Stunde ähneln, gibt es in Bremer Supermärkten also bereits seit vielen Jahren. Entsprechend beworben werden sie jedoch meist nicht.
Die Umsetzung einer Stillen Stunde im eigentlichen Sinne könnte sich für einige Supermärkte in Bremen auch tatsächlich ein wenig problematisch gestalten. Im REWE-Markt im Viertel beispielsweise ließe sich das Konzept nicht so einfach umsetzen, berichtet Marktleiter Eike von Ohlen (28). Vom Prinzip her findet er das Konzept eigentlich ganz gut, Schwierigkeiten bei der Umsetzung sieht er vor allem in der Organisation. Die Einführung selbst würde er dabei nicht als großen Mehraufwand bezeichnen. „Wenn es Routine ist und man sagt, man hat einen Knopf, um das Licht entsprechend zu dimmen und den Ton auszustellen, ist es schnell gemacht.“ Im Handel sei es allerdings oft schwierig, sich an feste Pläne zu halten, da jeder Tag anders ausfalle. „Wenn beispielsweise von den Mitarbeiter:innen mal jemand ausfällt, dann dauert es länger, die Ware auszupacken. Dann schafft man es nicht, bis 17 Uhr fertig zu sein. Im Fokus steht natürlich, den Kunden das Produkt zur Verfügung zu stellen. Vor allem in so stark frequentierten Märkten wie hier im Viertel, wo wir das Lager dreimal am Tag gefüllt bekommen und nachräumen müssen, ist es schwierig“, erklärt er. In anderen Läden mit größeren Lagern und Verkaufsflächen, in denen Waren nicht ganz so häufig neu angeliefert und verräumt werden müssen, hält von Ohlen die Umsetzung einer Stillen Stunde eher für möglich. Die Möglichkeit das Konzept umzusetzen, besteht also, wenn auch mit Einschränkungen.
Auch die Nachfrage besteht, wie Silke Ehrenberg vom Autismus Bremen e.V., Leiterin des ATZ Bremen-Mitte, im Telefoninterview berichtet. Sie hatte einen Post, der die Stille Stunde in Hannover bewarb, auf Instagram geteilt und daraufhin einige Rückfragen erhalten, ob für Bremen nicht vielleicht eine ähnliche Aktion geplant sei. Auch sie selbst findet großen Gefallen an dem Konzept und kann sich gut vorstellen, dass viele Menschen mit ASS davon profitieren würden. „Ich denke vor allem an die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die schon jetzt bewusst die ruhigeren Stunden, zum Beispiel früh morgens oder spät abends, für ihre Einkäufe nutzen, um zusätzlichen Stress zu vermeiden. Schon das große Sortiment der Supermärkte kann für Menschen mit Konzentrations- und Entscheidungsschwierigkeiten eine gewisse Überforderung bedeuten, ganz unabhängig von allen zusätzlichen äußeren Reizen.”
Auch Maria Rese aus Bremen, die beim Interview im Supermarkt zum ersten Mal vom Konzept der Stillen Stunde hört, ist angetan: „Gerade mit Kind wäre die Stille Stunde ganz schön, weil man oft denkt, jetzt kommt man in den Supermarkt und dann ist das Kind vollkommen aufgedreht und schläft gar nicht. Für Kinder sind es manchmal sehr viele Eindrücke, wenn sie unter einem Jahr alt sind.“
Von Menschen aus dem autistischen Spektrum über Personen mit Migräne oder Angststörungen, Eltern mit kleinen Kindern oder Senioren bis hin zu jenen, die sich einfach hin und wieder ein ruhigeres Einkaufserlebnis wünschen würden: Die Zielgruppen der Stillen Stunde sind groß und in allen Schichten vertreten.
Einen konkreten Plan für eine Umsetzung in Bremen gibt es bisher jedoch nicht. Silke Ehrenberg könnte sich jedoch gut vorstellen, sich an einem entsprechenden Projekt zu beteiligen, auch wenn sie als Einzelperson nicht für den gesamten Verein sprechen kann. Würde beispielsweise der Landesbehindertenbeauftragte der Stadt Bremen, Dr. Arne Frankenstein, mit einer entsprechenden Anfrage an den Verein herantreten, hält Ehrenberg es für möglich, dass eine Zusammenarbeit und ein Projekt zustande kämen.
Die Chance auf diese Zusammenarbeit besteht tatsächlich, denn auch Dr. Arne Frankenstein erkennt den Abbau von Barrieren und Reizreduzierung im Alltag als wichtige Themen an. „Man muss vielmehr auf Menschen und deren spezifischen Anforderungen eingehen“, sagt er.
Die Stille Stunde ist seiner Meinung nach ein Angebot, das gut nach Bremen passen würde und das offen und für alle Menschen, die es in Anspruch nehmen möchten, bereitgestellt und bekannt gemacht werden sollte. Er kann sich daher gut vorstellen, den Kontakt aufzunehmen und entsprechende Forderungen in die Welt zu setzen.