Autor:in: Irmgard Gummig

Betroffen – sein und über – Leben

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Sexueller Kindesmissbrauch ist leider immer noch ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Ich möchte benennen, wie wichtig es ist, hinzuschauen. Aufklären und Mut machen ist meine Intention.

Ich möchte über ein Thema berichten, das noch immer in unserer Gesellschaft zu wenig publiziert wird. Sexueller Missbrauch kann jedem Kind und jedem:r Jugendlichen angetan werden; unabhängig von Geschlecht, Alter, sozialem oder kulturellem Hintergrund. Kinder sind stärker gefährdet als Erwachsene, Missbrauch zu erleiden und damit alleine zu bleiben. Sie sind besonders verletzlich. Dazu kommen oft fehlende elterliche Fürsorge und zu wenig Wissen über sexuelle Themen. In den letzten Jahren erleben wir mehr Öffentlichkeitsarbeit und somit mehr Unterstützung für Betroffene. Ein Fortschritt also? Was passiert konkret, auf politischer Ebene? In diesem Zusammenhang möchte ich hier die Arbeit des UBSKM und Betroffenenrates benennen.

Die Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) ist das Amt der Bundesregierung für die Anliegen von Betroffenen, die sexuelle Gewalt erleben, und deren Angehörige, für Expert:innen aus Praxis und Wissenschaft sowie alle Menschen in Politik und Gesellschaft, die sich gegen sexuelle Gewalt engagieren. Nach dem sogenannten „Missbrauchsskandal“ 2010 brachen hunderte Betroffene aus verschiedenen Einrichtungen ihr Schweigen. In Folge wurde der Runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ der Bundesregierung einberufen und das Amt eingerichtet. Die wesentlichen Aufgaben sind:

– Über sexualisierten Gewalt gegen Kinder und Jugendliche informieren, sensibilisieren und aufklären

– Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt nachhaltig verbessern und betroffene Menschen unterstützen

– Gesetzliche Handlungsbedarfe und Forschungslücken im Themenfeld sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche identifizieren

– Die Belange von Menschen wahrnehmen, die in ihrer Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erlitten haben

– Systematische und unabhängige Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland sicherstellen

Mit Einrichtung des Betroffenenrates 2013 wurde die Forderung des UBSKM nach strukturierter Beteiligung von Betroffenen umgesetzt. Aktuell 16 Mitglieder unterstützen die Arbeit des UBSKM.

Die Mitglieder haben sexualisierte Gewalt in unterschiedlichen Kontexten erlebt. Sie arbeiten seit Jahren zum Thema und verfügen neben individuellem Erfahrungswissen auch über Expert:innenwissen. Durch strukturierte Beteiligung und Mitwirkung von Betroffenen bei der Entwicklung von Konzepten, Vorhaben, und Positionierungen der UBSKM sowie im Rahmen weiterer Gremien bringen sie die Anliegen und Belange von Betroffenen auf Bundesebene ein.

Soweit zu den politischen Entwicklungen und Fakten. Doch die Zahl von sexuellen Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche ist groß. Die Dunkelziffer ist nicht überschaubar. Viele Betroffene können aus Angst und Scham nicht in Handlung gehen, fühlen sich hilflos allein gelassen. Zu wenig Information über Hilfen und Angst vor Verleumdung, erlebte Unaufmerksamkeit und Unglauben lässt sie keine Worte finden über lange quälende Zeiten.

Die derzeitige Beauftragte des UBSKM, Kerstin Claus, benennt Tatsachen und weitere dringende Aufgaben in einer Pressemitteilung vom 17.05.22 mit deutlichen Worten:

„Verantwortung darf beim Thema Kindesmissbrauch nicht wegdelegiert werden! Ich kämpfe dafür, das Bewusstsein gesamtgesellschaftlich zu stärken, damit Kinder und Jugendliche künftig effektiver vor sexualisierter Gewalt geschützt und Taten schneller aufgedeckt werden. …Kinder und Jugendliche brauchen starke Netzwerke, Schutzkonzepte vor Ort und verlässliche Hilfen, die Betroffenen über die gesamte Lebensspanne niedrigschwellig zur Verfügung stehen.“

Sie fordert:

– Engagierte Menschen vor Ort zu stärken, wie Beratungsstellen, Kinder- und Jugendhilfe, Ermittlungsbehörden

– Ausbildungseinrichtungen, z. B. für soziale und pädagogische Fachkräfte

– Konsequenten Austausch von Politik und Betroffenen. Betroffene wissen, was geholfen hätte, Taten zu verhindern oder wenigstens die Folgen bestmöglich zu minimieren.

Frau Claus sieht:

„ …trotz allen Engagements der vergangenen Jahre stehen wir noch am Anfang bei Schutzkonzepten in Schulen, Vereinen und anderen Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit. Nicht einmalige Stichproben, regelmäßig erhobene Zahlen ermöglichen evidenzbasierte und nachhaltige politische Entscheidungen.“

Frau Claus fordert:

„…das Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche endlich verbindlich im Parlament verankern. Es ist von besonderer Bedeutung, dass der Staat bereit ist, mehr Verantwortung zu übernehmen. Wo Kinder und Jugendliche nicht vor sexualisierter Gewalt geschützt wurden, kann Aufarbeitung wenigstens heute Taten sichtbar machen. Deswegen sollte ein Recht für Betroffene auf Aufarbeitung im Gesetzgebungsprozess mitgedacht werden.“

Frau Claus erklärt:

„ …Täterstrategien sind hochmanipulativ und beziehen immer auch das soziale Umfeld ein. Erst wenn wir begreifen, dass sexueller Missbrauch jederzeit auch in unserem direkten Umfeld stattfinden kann, werden wir anfangen, genauer hinzusehen und auch aktiv zu werden. Wir müssen nicht alle Expert:innen werden, aber Bewusstseinswandel erreicht man nicht mit ein paar Plakaten.“

Noch immer wird die ganz konkrete Bedrohung von vielen Kindern und Jugendlichen verdrängt und weggeschoben. Claus will genau diese Haltung des Verdrängens durchbrechen, das Thema immer wieder neu benennen, Lösungen aufzeigen und Netzwerke vor Ort stärken. Sexueller Missbrauch ist immer noch ein Tabuthema.

Als selbst Betroffene setze ich immer wieder Hoffnung in die Entwicklung seitens der Politik. Meine Hoffnung ist gerichtet auf mehr öffentliche Präventionsarbeit, wie oben benannt. Aber notwendigerweise oft lebenslange, niederschwellige, konkrete Hilfe und Unterstützung für uns Betroffene ist in meinen Augen nicht ausreichend gegeben. Diese Wege wären dringend zu überarbeiten. Schutzmaßnahmen für Kinder, leichter zugängliche Netzwerke ausbauen, Anzeigen glaubhaft aufnehmen, therapeutische Hilfe schnell und leichter finden sind einige Beispiele. Es hat sich schon vieles geändert im Sinne von Glaubhaftigkeit und Anerkennung. Noch vieles sollte sich im Bewusstwerden der ständigen Aktualität des Themas bewegen. Trauen wir uns, mehr und bewusster hinzuschauen, zu benennen, enttabuisieren. Die aktuell traurige Wahrheit ist leider oft immer noch, dass die Opfer in eine Rechtfertigungshaltung gedrängt werden und Glaubhaftigkeit nachweisen müssen. Mein Wunsch ist: Für mich selbst benenne ich wieder einmal Informationen, um meine eigene Hoffnung und Stärke auf meinem Heilungsweg nicht zu verlieren, zum Bewusst machen „Ich stehe vielleicht doch nicht allein mit der Bewältigung“. Für andere Menschen, die durch Gewalt- und Missbrauchserleben in der Kindheit und Jugend notgedrungen mit Langzeitfolgeschäden und der Zerstörung ihres Ichs leben müssen, benenne und berichte ich, soweit es in meinen Kräften liegt. Ich hoffe, dadurch betroffenen Menschen ein Stück Hoffnung und Mut abgeben zu können. Auch und vor allem wünsche ich mir und anderen, die wir betroffen sind, ein Stück weit gut zu -überleben.

Trotz alledem!

Fotos: UBSKM /  © Barbara Dietl.

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