Autor:in: Joachim Götz

Rollenspiele im Wichernhaus – Den eigenen Handlungsspielraum erweitern

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Seit Oktober 2022 hatte ich mehrmals die Gelegenheit an den Treffen der einmal monatlich stattfindenden “Rollenspiel-Gruppe” im Wichernhaus teilzunehmen. Unter anderem von meinen ersten Eindrücken und Erfahrungen möchte ich hier berichten.

Wie alles begann

Marion Kutschan, Genesungsbegleiterin, hat die Rollenspielgruppe ins Leben gerufen. Eines Tages, im Sommer 2021, während eines Ausflugs mit Nutzerinnen der Tagesstätte zum Frauenraum Eigenart (https://frauenraum-bremen.de) wurde die Idee zur Gruppe geboren. Eine Dame erzählte von einem Erlebnis aus einer Alltagssituation. Spontan kam Kutschan die Idee, diese Situation mal durchzuspielen. Bei den Anwesenden fand dies einen solch guten Anklang, dass der Wunsch geäußert wurde etwas Derartiges als regelmäßige Gruppe im Wichernhaus auch haben zu wollen. Rollenspiele waren Kutschan im Rahmen von Supervision als Bestandteil ihres Ex-In-Kurses bekannt, wo sie diese bereits interessant und hilfreich fand. Von der Idee, eine solche Gruppe zu leiten, war Kutschan angetan. Nun existiert seit November 2021 die Rollenspiel-Gruppe. Sie ist für Marion Kutschan zu einer Herzenssache geworden.

Worum geht es

Es geht in der Hauptsache um ganz gewöhnliche Alltagssituationen die wir alle erleben. Viele von uns kennen das: Gedankenkreisen und Grübeln, Nicht-Einschlafen-Können, weil Situationen, die man mit anderen Menschen erlebt, immer und immer wieder vor dem geistigen Auge erscheinen. Was hätte man besser oder einfach nur anders machen können? Warum hat eine bestimmte Person gerade so und nicht anders reagiert? Wie kann ich dafür sorgen, aus ähnlichen Situationen in Zukunft mit einem besseren Gefühl heraus zu gehen? Wie kann ich Begegnungen, Beziehungen oder Konflikte für mich und auch für andere befriedigender gestalten? Ebensolche Situationen werden in der Gruppe von den Anwesenden, sofern das ihr Wunsch ist, eingebracht, besprochen und bei Bedarf gespielt. Dabei kann die betreffende Person wählen, ob sie selbst nochmals in die eigene Rolle geht, in eine andere Rolle schlüpft oder die Situation überhaupt von anderen spielen lässt, um durch Beobachtung etwas über sich zu erfahren. Dass es bei den Rollenspielen nicht um Perfektion geht, ergibt sich von selbst. Sich in einer unvertrauten Situation auszuprobieren und zu üben, sie zu erleben, steht stattdessen im Vordergrund. Kutschan berichtet, dass man diesen Aha-Effekt im Gesichtsausdruck wahrnehmen kann. „Mich freut das immer, wenn die Gesichter sich erhellen. (…) Natürlich macht das manchmal auch grüblerisch oder traurig. Auf jeden Fall bewegt sich was.“ Aus ihrer persönlichen Erfahrung als Akteurin im Rollenspiel berichtet Kutschan, dass es ihr gut getan hat zu hören, wie sie von anderen wahrgenommen wird und welche Stärken andere an ihr beobachten.

Einzigartige Möglichkeiten

Anfang 2022 stieß Reinhard Baeßler mit zur Gruppe. Reinhard Baeßler, der seit 28 Jahren im Wichernhaus arbeitet, ist Diplom-Psychologe und Leiter der Einrichtung. Zunächst wohnte Baeßler der Gruppe lediglich bei, übernahm dann aber mit, so dass diese nun von beiden geleitet wird. Der Wunsch von beiden etwas zusammen zu machen, stand schon länger im Raum. Reinhard Baeßler sieht in der Genesungsbegleiter:innen- Ausbildung eine Bereicherung, so etwas wie einen “Schatz, den man gut nutzen kann”. Außerdem plante Baeßler, der bereits in der Vergangenheit gemeinsam mit einem Genesungsbegleiter in einer Recovery-Gruppe arbeitete, wieder etwas Ähnliches anzubieten. „(…)und ganz kleine Recovery-Anteile (Selbstwirksamkeit, Selbstwahrnehmung, Selbstbehauptung, ….) spiegeln sich ja in dem Angebot der Rollenspiel-Gruppe auch wider. (…) davon wegzukommen, dass man nur unter einem Label, unter einer Diagnose, unter einer Störung leidet, sondern auch zu sehen: ein Mensch ist sehr vielschichtig, …hat ganz viele Möglichkeiten. Jeder Mensch hat auch einzigartige Möglichkeiten“, sagt er. Auch das Blitzlicht, jeweils zu Beginn und am Ende einer Gruppe hat Baeßler eingeführt. Die eigene Stimmungslage wird anhand einer Zahl zwischen 1 und 10 benannt. In diesem Zusammenhang sagt er weiter: „Wir achten auch darauf, dass kein Mensch mit einem schlechten Gefühl, beziehungsweise einer Belastung aus der Gruppe rausgeht. Dafür wollen wir Sorge tragen, so gut es geht. Obwohl die Grundidee auf der anderen Seite natürlich schon ist, dass wir zum Nachdenken anregen wollen und Veränderungen verunsichern immer erstmal ein bisschen, oder geben Irritationen. Aber wichtig ist uns, dass jemand mit einem unbelasteten Gefühl wieder gehen kann.“ Wenn bemerkt wird, dass es einer Person nach der Gruppe schlecht geht, wird ihr ein Gespräch angeboten und nachgefragt, ob sie zu Hause alleine ist. „Wir achten darauf. Das ist uns ganz wichtig“, sagt Marion Kutschan.

Durch den Dschungel ins Licht

Unterstützung erhält man beim Einbringen und auch beim Spielen von den Teilnehmer:innen in Form von Nachfragen und Anregungen zur genannten Situation. Bereits an diesem Punkt werden oft Lösungsansätze sichtbar. Licht kommt ins Dunkel. Nina Pfeiffer, eine Teilnehmerin, berichtet über ihre Erfahrungen diesbezüglich: „Ich hab´ die Möglichkeit, das nochmal zu durchleben und mir bewusster darüber zu werden, was tue ich da eigentlich gerade oder in was für einer Rolle befinde ich mich. Für mich ist ein ganz großer Punkt dann aus dieser Ohnmacht und Hilflosigkeit heraus zu kommen, welche ja hinter vielen Situationen steckt. …und dass ich dann im Rahmen des Spiels und auch nachher mit der Gruppe erarbeite, dass da vielleicht doch Möglichkeiten sind … ich finde, das geht gerade durch das Spielen, also in die Handlung zu kommen, eine ganze Ebene tiefer, als wenn man nur darüber reden würde”. Andererseits gab es auch schon solche Situationen in denen zunächst gar kein Rollenspiel gemacht wurde, da noch nicht der richtige Moment dafür da war: „…erst mal durch den Dschungel ins Licht kommen. Was ist jetzt genau das Thema, und wie gehen wir damit um“, sagt Kutschan, und fügt hinzu: „Toll, wenn dann ein Psychologe da ist wie Reinhard, der das dann auf den Punkt bringt.“

Ein bunter Blumenstrauß

Nach dem eigentlichen Rollenspiel, reflektieren sowohl die Zuschauer:innen, als auch die Spielenden über das eben Erlebte, indem sie darüber reden, wie sie sich während des Spiels gefühlt haben. Sie berichten darüber, inwieweit die dargestellte Situation in ihrem eigenen Leben von Bedeutung ist, oder welche Erfahrungen sie mit einer bestimmten Handlungsweise gemacht haben. Die Fähigkeit sich zu beobachten, wahrzunehmen und zu reflektieren wird geübt. Ebenso Gefühle auszudrücken. Gründe für verschiedenes Verhalten werden deutlicher. Der eigene Handlungsspielraum für die Zukunft erweitert sich. Man erhält ein Bewusstsein für seine eigenen Stärken. „Was ich noch total wichtig an der Gruppe finde, ist dieses Schwarmwissen. Bisher gab es eigentlich immer Berührungspunkte mit den anderen… so kommt von allen Teilnehmern eigentlich was dazu, was den Blumenstrauß bunt macht. Von den Erfahrungen anderer zu profitieren und darüber zu lernen, das finde ich unheimlich wichtig“, sagt N. Pfeiffer. Und Baeßler sagt es mit den Worten: „ Wenn dann so ´ne Gruppe zusammensitzt, und da sind fünf Leute, dann ist das mehr als die Zahl Fünf. Dann ergibt sich oft eine besondere Dynamik….“

Mein Eindruck

Ich selbst habe von der Rollenspiel-Gruppe während eines Besuches in der Tagesstätte erfahren. Die Idee von Rollenspielen sprach mich grundsätzlich sofort an. Besonders da ich im Vorfeld durch verschiedene stationäre Therapien schon eine ungefähre Vorstellung davon hatte, was mich dort erwarten würde. Für mich auf der einen Seite eine große Herausforderung, während ich auf der anderen Seite wusste, dass gerade etwas derartig Forderndes mich wirklich weiter bringen könnte. Gruppensituationen jedweder Art empfinde ich als sehr unangenehm. Sie sind für mich sehr von Angst geprägt. Die Hemmschwelle an solch einem Treffen teilzunehmen war also entsprechend hoch. Ein klein wenig half mir im Endeffekt der Gedanke dort beim ersten Mal auch nur stiller Beobachter sein zu können, mich tatsächlich zu überwinden und auch hin zu gehen. Für alle, die ähnliche Bedenken haben wie ich, versichert mir Marion Kutschan, dass wir damit nicht alleine sind und dass es in Ordnung ist zunächst erst mal nur dabei zu sein. Weiter erklärt sie, dass es jederzeit auch möglich ist, den Raum zu verlassen und dass es ihr wichtig ist, dass sich niemand zu irgendwas gezwungen fühlt. „Wenn eine Person dabei ist, dann scheint es ihr ja in irgendeiner Form etwas zu bringen, sonst würde sie ja nicht wieder kommen und dabei sein wollen. Und das geht einigen so“. Und Reinhard Baeßler erklärt: „ jemand kann auch eine Stunde lang dasitzen. …Keiner hat die Pflicht auf die Bühne zu treten oder im Anschluss an das Rollenspiel fünf Sätze zu sagen. Es gibt ja durchaus Menschen, für die es schon ein mutiger Schritt ist in den Raum zu gehen, sich in die Gruppe zu setzen, eineinhalb Stunden zu konzentrieren und mit Themen konfrontiert zu werden, die nicht angenehm sind. Und wenn jemand danach völlig erschöpft ist, dann ist das völlig in Ordnung, dass sie/er sonst keinen aktiven Beitrag dazu bringt.“ Nina Pfeiffer ergänzt dazu: „Ich finde auch, diese Erlaubnis, einfach so da hin zu kommen, wie man ist, mit seinen Ängsten und Schwierigkeiten, unheimlich beruhigend. Das lässt erst die Atmosphäre entstehen, dass da was rauskommen darf, wenn es an der Zeit ist. Wenn ich einen Raum habe den ich einnehmen darf, in meinem Tempo, dann ermöglicht das viel mehr, finde ich zumindest. Das finde ich sehr hilfreich.“

Jetzt bin ich froh, dass ich dort war. Denn was ich dort erlebte: war eine recht ungezwungene Atmosphäre, bei aller Tiefgründigkeit und Ernsthaftigkeit, die mit den jeweiligen behandelten Themen einhergehen, mit viel Verständnis für die Eigenheiten der einzelnen Personen. Vielleicht könnte es mir in einem solchen Rahmen tatsächlich möglich sein mich zu öffnen, und eines Tages eine eigene Problematik zu bearbeiten? Sicherlich wird es mir auch weiterhin nicht leicht fallen daran teilzunehmen. Doch die erste Hürde ist jedenfalls genommen. Und vielleicht fällt es mir ja von Mal zu Mal immer etwas leichter. Das werde ich noch sehen. Erfahrungsgemäß ist es aber so. Nina Pfeiffer berichtet: “Die Angst davor, Fehler zu machen, zu überwinden und die Erfahrung zu machen, dass mir in diesem geschützten Rahmen nichts passiert, dass ich mich ausprobieren kann, das ist ein ganz, ganz wertvoller Faktor, der diese Gruppe so fantastisch macht.”

Infos zum Treffen der Rollenspielgruppe:

Wo: Am Dobben 112, Bremen
(zwischen den Haltestellen „Humboldtsstraße“ und „Am Dobben“ Straßenbahnlinie 10)

Wann: Einmal monatlich freitags von 14:30 Uhr bis 16:30 Uhr (mit Pause)

Anmeldung: Gleich im Eingangsbereich links verfügt das Wichernhaus über ein Café. Dort befindet sich ein Aushang, auf den man sich bei Interesse eintragen kann.

Telefon: Zusätzlich gibt es die Möglichkeit sich bei Fragen telefonisch im Wichernhaus zu melden, unter der Rufnummer 0421 34967-5112

Zugang: Das Wichernhaus verfügt über einen Aufzug und ist somit rollstuhlgerecht zugänglich. Dieser befindet sich gleich rechts neben dem Eingang und ist mit einer Klingel versehen.

Weitere Informationen zum Wichernhaus
und dessen Angebote finden sich unter:

www.inneremission-bremen.de/standorte/#wichernhaus

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