Fortbildung am 29. September 2017 zum Thema „Neuroleptika und Antidepressiva reduzieren und absetzen“ vom psychiatrischen Bildungsträger F.O.K.U.S. Vier Frauen berichten von ihren Erfahrungen.
Bei dieser Fortbildungsreihe des F.O.K.U.S. in Walle saßen bisher Menschen mit Doktortitel auf dem Rednerstuhl. Ende August waren es vier Frauen. Vier Frauen mit einer bewegenden Biographie, die sie sehr offen und ausführlich im Kreis mitteilten. Und vier Frauen, die viele und unterschiedliche Erfahrungen mit Medikamenten gemacht haben.
Zuerst erzählt Thelke Scholz. Eine schlanke Frau, die so souverän und kompetent erzählt, dass man sie sich kaum vorstellen kann mit 110 Kilogramm, den überwiegenden Teil des Tages schlafend und in der wachen Zeit kaum in der Lage ihren Alltag zu bewältigen. Und doch verliefen fünfzehn Jahre ihres Lebens so oder so ähnlich. Fünfzehn Jahre, in denen sie vollgestopft war mit Neuroleptika und anderen Medikamenten. Rückblickend versteht sie immer mehr, was die Medikamente mit ihr gemacht hatten. Neben zahlreichen körperlichen Problemen (besonders unangenehm waren für sie das starke Schwitzen im Gesicht und an den Händen, sowie der Juckreiz im Gesicht, der dazu führte, dass dieses häufig völlig zerkratzt war) war es die völlige Abgeschnittenheit von ihren Gefühlen, die zu einer bestimmten Form von Apathie führten. Der erste Schritt in eine gute Richtung war ein Arzt, der sie fragte, ob sie ein neues Medikament ausprobieren wollte. Dieses nach ihrer Meinung gefragt werden, war für sie neu. Sie willigte ein. Mit diesem Medikament entkam sie dem völligen Desaster, es gab ihr ein wenig Lebensqualität zurück. Irgendwann war ihr Lebenshunger wieder erwacht und sie wollte mehr. Sie fragte den Arzt nach dem Weg zum Absetzen, den er mit ihr zusammen ging. Zwei Jahre dauerte dieser Weg. In vielen kleinen Schritten wurde die Dosis reduziert. Jeder dieser Schritte führte sie in eine Krise. Aber sie war vorbereitet. Sie hatte sich ein Umfeld geschaffen, welches sie dabei unterstützte und sich praktisches Handwerkszeug zugelegt, so zum Beispiel ein regelmäßiges Verweilen in der Natur. Nach zwei schweren Jahren war es geschafft. Aber – nun setzte die emotionale Nachreifung ein. Fünfzehn Jahre waren ihre Gefühle blockiert gewesen und sie hatte in dieser Zeit eben auch keine Erfahrungen damit machen können. Jetzt war wieder alles da. Und damit auch viel Stress. Manchmal sei der Wunsch da, wieder zurückzukehren in die Welt der inneren Taubheit, erzählt Thelke Scholz. Aber nur kurz. Denn inzwischen hat sie sich ihren großen Wunsch erfüllt und eine Familie gegründet.
Arnolde Trei-Benglers Geschichte ist ein wenig anders. Mit ihrer ersten Psychose vor über zwanzig Jahren begann ein jahrelanges Ringen mit den Medikamenten. Immer wieder nahm sie keine und kam in Krisen. Sie versuchte es, sie nur bei beginnender Symptomatik zu nehmen. „Damit bin ich aber auf die Schnauze gefallen.“ Seit zehn Jahren hat sie sich damit arrangiert, dass sie Neuroleptika nehmen müsse. „Ich habe eine unterschwellige Psychoseneigung, dafür brauche ich sie,“ meint Arnolde Trei-Bengler. Es sei ihr aber gelungen, die Medikation in diesen zehn (psychosefreien) Jahren immer weiter zu minimieren. Jetzt nimmt sie kein Anti-Depressiva und keine Phasenprophylaxe mehr und hat das Neuroleptika auf eine geringe Erhaltungsdosis reduziert. Und selbst diese wird sie vielleicht irgendwann nicht mehr benötigen, glaubt sie. Das Absetzen und Reduzieren hat sie übrigens nicht in Absprache mit ihrem Arzt gemacht, sondern ihn immer erst hinterher darüber informiert. Auf die Frage aus dem Publikum, wie er denn darauf reagiere, erzählt sie, er würde ohnmächtig mit den Schultern zucken und sie aber gewähren lassen.
Wichtig sei für sie eine aktive und bewusste Lebensgestaltung. Den fehlenden Pillen müsse frau ein selbstbestimmtes Leben entgegensetzen. Dazu gehören eine Arbeit, Hobbys, ein soziales Umfeld und eine gute Selbstfürsorge. So habe sie jahrelang den Tag begonnen mit ihrem „Tagebuch der Freude“ sowie Yoga und Qi Gong.
Die jahrelange Einnahme von Neuroleptika verursacht meistens Nebenwirkungen, besonders, wenn sie hochdosiert sind. Arnolde Trei-Bengler hat auch damit zu tun. Bewegungsunruhe im Stehen und Sitzen sei es bei ihr. Vielen gehe es aber schlimmer.
Das Reduzieren ist für sie aber kein Dogma. Vielmehr geht es für sie um einen selbstbestimmten Umgang mit den Medikamenten. Neulich hatte sie durch ein bestimmtes Ereignis wieder ein wenig mit ihren Psychosesymptomen zu tun. Sie erhöhte ihre Dosis für eine Woche, bis sie sich wieder im Gleichgewicht fühlte. Überhaupt sagt sie von sich: „Ich bin voll zufrieden mit meinem Leben und stolz.“ So sei sie auch seit kurzem verheiratet.
„Jeder soll für sich selber entscheiden, ob und wie viele Medikamente er nimmt,“ sagt Gerlinde Tobias. In ihrer Arbeit als Patientenfürsprecherin im Krankenhaus Bremen-Ost erlebe sie es aber häufig, dass Menschen wieder in die Klinik kämen, die ihre Medikamente absetzten und dann wieder in eine schwere Krise gerieten. Deshalb ist sie der Meinung: „Es braucht beim Absetzen einen Begleiter.“ Sie selber hatte diesen gefunden im Klinikum Bremen Nord, wo sie selber gute Erfahrungen gemacht hat, obwohl sie in ihrer schweren Lebenskrise dort immer wieder stationär aufgenommen werden musste (diese Krise dauerte vier Jahre). Insgesamt habe sie sechs Jahre Anti-Depressiva genommen. Zum Ende dieser Zeit, als es ihr wieder besser ging, fühlte sie sich von dem Medikament sediert und wollte dieses nicht mehr. Sie ging zu ihrem Arzt und bat ihn, frei von den Pillen zu werden. „Ich begleite sie dabei,“ war seine Antwort.
Angesprochen auf die Situation, was zu tun sei bei Menschen, die aufgrund der Medikamente so beeinträchtigt seien, dass sie gar keinen Impuls verspüren könnten, da heraus zu kommen, antwortet sie, dass dann Psychiatrie-Erfahrene eine gute Hilfe sein können oder auch professionelle Helfer. Dieses sei aber eine Gratwanderung, merkt Thelke Scholz an. Oberstes Gebot sei es, dem Menschen wirklich offen zu begegnen und ihn nicht in eine Richtung zu schubsen. Für sie sei der freie Wille des Menschen das Entscheidende auf dem Weg zur Genesung.
Alle drei Frauen haben die Ex-In-Ausbildung gemacht und alle schwärmen davon und machen deutlich, wie wesentlich und positiv für sie die Ausbildung zum Genesungsbegleiter gewesen sei.
Sabine Weber bringt dann noch einmal einen anderen Impuls in die Veranstaltung. Zunächst schildert sie mit deutlichen und teils schwer zu ertragenden Worten die Geschichte ihrer frühkindlichen Vernachlässigung und des sexuellen Missbrauches. Irgendwann landete sie in einer Klinik, in der sie das Neuroleptikum Abilify bekam. Vierzehn Tage nahm sie dieses ein, dann lehnte sie diese Art der Behandlung ab.
„Das war der letzte Moment. Hätte ich das Zeugs noch ein wenig länger genommen, wäre mein Wille gebrochen gewesen und ich hätte nicht mehr die Möglichkeit gehabt, mich dagegen zu wehren.“ Für sie ist es wichtig, nicht betäubt zu werden, sondern ihre Gefühle zu leben. Dabei spielt ihre Wut eine große Rolle. Diese sei für sie der Antrieb, der es ihr ermöglicht, Dinge für sich zu erreichen, zu denen die wenigsten Betroffenen kommen. So hat sie gerade geschafft, einen Prozess gegen das staatliche Versorgungsamt zu gewinnen und ist nun vom Gericht anerkanntes Opfer sexuellen Missbrauches.
Sie stellt provokante Fragen zum gesellschaftlichen System und fordert die Anwesenden auf, sich für eine wirkliche Umkehr in der psychiatrischen Versorgung ein zu setzen. „Warum werden Menschen in der Psychose nicht in kleinen Wohngruppen mit individueller Betreuung begleitet?“ fragt sie in die Runde.
Dieses führt zu einem Austausch in der Gruppe über die Frage nach dem “Warum und Wie-geht-es-besser-mit-der-Psychiatrie”, an dem sich aber nicht viele Teilnehmer der Fortbildung beteiligten. Jörn Petersen vom F.O.K.U.S. erzählt dabei von seinen Erfahrungen im europäischen Austausch. So sei gerade in Triest die Forensik geschlossen worden. Immer wieder gäbe es hoffnungsvolle Impulse. Manches erscheine aber auch düster.
Am Ende ist Zeit, für alle im Raum, etwas zu der Veranstaltung zu sagen. Berührendes und Anregendes ist hier zu hören. Persönliches und Ideen für die Zukunft. Es wird deutlich: Vieles läuft nicht gut. Ärzte in Praxen und Kliniken verschreiben meist zu schnell zu starke Medikamente und sind zu wenig im wirklichen Kontakt mit den Menschen in der Krise. Mit teils existentiellen Folgen für die Betroffenen. Aber – die Schilderungen der vier Frauen machen Mut, denn sie zeigen, dass es auch anders gehen kann. Auch wenn es oft ein langer schmerzhafter Weg ist.