Der Schlachthof in Bremen. Ein imposantes Bauwerk, dessen Schornstein sich unübersehbar gen Himmel reckt. Mit einer turbulenten Vergangenheit und einer einflussreichen Gegenwart. Wahrscheinlich wünschen sich viele Patienten der Psychiatrie eine ähnliche Sichtbarkeit in der Stadt, in unserem Land, in der Welt und in ihrem eigenen Leben. Sie wünschen sich einen Ort, an dem sie all ihre Bedürfnisse, Ängste und Nöte sichtbar machen können. 2014 war die Tagung des DGSP im Schlachthof genau so ein Ort, um sich Gehör zu verschaffen. Um sichtbar zu sein.
Denn in der Behandlung von Menschen mit seelischen Belastungen gibt es auch heute noch viele Missstände, gegen die „Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie“, kurz DGSP, kämpft. Immer noch werden diese Menschen von der Gesellschaft ausgegrenzt, sind finanziell schlechter gestellt und manchmal in ihrer Selbstbestimmung beschränkt.
Die DGSP initiiert Versorgungsforschung, Workshops, Zukunftswerkstätten und bietet ein umfangreiches Fortbildungsprogramm. Um die Psychiatrie menschlicher und sozialer zu gestalten. Außerdem findet jedes Jahr eine große Tagung statt; 2014 war diese vom 13. bis 15. November in Bremen. Das große Überthema der Veranstaltung war die „Sozial psychiatrische Grundhaltung“.
Fast 450 Menschen haben teilgenommen und für viele war die Veranstaltung mit dem Psychiater Asmus Finzen und dem Verleger Peter Lehmann (Antipsychiatrieverlag) ein Highlight. Beide setzten sich intensiv mit dem Thema »Psychopharmaka absetzen – warum, wann und wie« auseinander.
Insgesamt gab es über 30 Vorträge und Diskussionen auf der dreitägigen Tagung. Mit Spannung wurde die Professorin Michaela Amering aus Wien erwartet. Amering, bekannt durch ihr Buch „Recovery“, hielt einen sehr interessanten Vortrag.
Ebenso war der Geesthachter Arzt Matthias Heißler einer der „Stars“ der Tagung. Heißler ist dadurch bekannt geworden, dass er als Chefarzt einen ganz neuen Ansatz für die Geesthachter Psychiatrie entwickelte (mehr dazu im Kasten auf Seite 12).
Eine unserer Zwielicht Redaktionsmitglieder, Sabine Weber, bot einen wachrüttelnden Beitrag auf der Tagung dar. Sie stellte sich als Frau Dr. Gerda Postel (Anspielung auf den Hochstapler Gert Postel, der durch seine mehrfachen Anstellungen als falscher Arzt Bekanntheit erlangte) auf die Bühne und verteilte Fachwerke zu psychiatrischen Diagnosen (den neuen und alten DSM*) im Publikum. In ihrer Rolle als Oberärztin provozierte sie das Publikum, holte Menschen auf die Bühne und erfand mit ihnen neue Krankheiten. Dabei war sie aber nicht nur lustig. Rigoros ließ sie jemanden, der zu viele Fragen stellte und aufmüpfig war, von zwei Helfern (ebenfalls in einstudierten Rollen) von der Bühne entfernen.
Musikalisch begleitet wurde das ganze von einem weiteren Mitglied unserer Zwielicht Redaktion, Andreas Römer. Sabine wollte mit ihrem Beitrag darauf aufmerksam machen, dass sogar gesunde Menschen durch die Verwendung des DSM als krank eingestuft werden können. Und somit Psychopharmaka auch an eigentlich gesunde Menschen verschrieben werden können. Daneben gab es noch weitere kritische Darbietungen auf der Tagung. Zum Beispiel wurde vom Blaumeier „Chor Don Bleu“ mit dem FischstäbchenSong Kritik am derzeitigen Psychiatriesystem geübt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Tagung war der Austausch und das Zusammenbringen der Psychiatrie Erfahrenen und der Psychiatrie Tätigen – sowohl in Veranstaltungen als auch zwischendurch. Ziel dieser und aller Tagungen der DGSP ist es, gemeinsam an einer menschenwürdigeren Psychiatrie zu arbeiten. Es ist ein langer schwerer Weg, für den schon seit vielen Jahren gekämpft wird. Und der dank engagierten Beteiligten hoffentlich in absehbarer Zukunft weitere Erfolge finden wird.
* Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders kurz DSM. Auf deutsch: „Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“ ist ein Klassifikationssystem in der Psychiatrie. Vielen ist das ICD-10 bekannter, dieses wird von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben – das DSM von der Vereinigung amerikanischer Psychiater.
Das DSM wurde erarbeitet, um psychiatrische Diagnosen reproduzierbar und statistisch verwertbar zu machen. Zur Zeit steht das DSM und das ICD-10 in Konkurrenz zueinander. Das DSM gilt als flexibler und genauer, steht aber in der Kritik, u.a. wegen der Nähe der Herausgeber zu Pharmafirmen.