Autor:in: Sascha Heuer

Buchbesprechung (Interviews mit Geschäftsführern, Ärzten etc. zu EX-IN – Erfahrungen)

Die Journalistin Bettina Jahnke hat nach „Vom Ich-Wissen zum Wir-Wissen – mit EX-IN zum Genesungsbegleiter“ ihr zweites Buch veröffentlicht. Dieses Mal beschäftigt sie sich mit der Frage, wie die Erfahrungen mit EX-IN in den letzten Jahren sind; und zwar aus der Perspektive von Entscheidungsträgern (Geschäftsführern, Ärzten etc). Sie, selber EX-INlerin, hat dafür zwölf Interviews geführt, in denen es meist weit über die Grundfrage des Buches hinausgeht. So ist ein tiefer und vielfältiger Einblick zur Situation der Psychiatrie in Deutschland entstanden. 

Im Vorwort schreibt Jörg Utschakowski, der neue Psychiatrie-Referent im Lande Bremen und einer der Väter des EX-IN Gedankens: „2007 ist das EU-Projekt, das die Grundlage für die EX-IN Ausbildung war, beendet worden. Das liegt nun schon eine Weile zurück. Damit ist es auch an der Zeit, EX-IN kritisch unter die Lupe zu nehmen, zu schauen: Was hat EX-IN erreicht?
Was sind die Potentiale, was sind Grenzen, was sind Fehler?

… EX-IN bedeutet nicht nur eine neue Berufsgruppe zu etablieren, der Stimme der Psychiatrie-Erfahrenen mehr Geltung zu verschaffen und deren gelebte Erfahrung zu nutzen, sondern auch die Psychiatrie zu verändern.“
Ob und wieweit sich die Psychiatrie mit und durch EX-IN verändert, diese Frage ist neben vielen praktischen Aspekten im Berufsalltag ein zentraler Bereich dieses Buches. Bereits im ersten Interview mit Gyöngyver Sielaff und Thomas Bock vom Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE), einer EX-IN Keimzelle, nimmt diese Frage einen großen Raum ein.
In Hamburg ist es inzwischen so, dass alle psychiatrischen Kliniken mit dem EX-IN Projekt verbunden sind. Es gibt insgesamt vierzehn EX-IN Beschäftigte, die allesamt an der Schnittstelle zwischen ambulant und stationär in eigenständigen Teams (mit Angehörigen) arbeiten.
Neben der Beratung von Betroffenen liegt ihr Aufgabenbereich in der Öffentlichkeitsarbeit – innerhalb und außerhalb der Psychiatrie.
So beschreibt Frau Sielaff die intensiven Wirkungen von innerbetrieblichen Fortbildungen, die von EX-INlern mitgestaltet werden: „Man glaubt gar nicht, wie viele Tränen bei unseren Recovery-Fortbildungen auf Profiseite schon geflossen sind. Das war wie eine Befreiung für viele. Was meinst du, wie viel Energien es frisst, wenn man die eigenen Krisenerfahrungen immer nur unterdrückt.
Hier herrscht das Rollenverständnis vor, es sei nicht professionell, das eigene Leid zu erkennen beziehungsweise es gehöre nicht in die fachlich verstandene Arbeit. Hier ist leider eine scharfe Trennung zu spüren. Wer sich dieser Auffassung nicht anpasst, gerät in Gefahr, nicht professionell zu wirken.
Ich bin dagegen der Ansicht, dass die eigenen Verletzbarkeiten und Verwundungen  und deren Bewältigungen von den Profis in der Psychiatrie die fachliche Begleitung vertiefen, das menschlich Verbindende erst möglich machen und somit für mich in diesem Sinne an den Arbeitsplatz gehören.“

Außerdem erwähnt Fr. Sielaff die Schulprojekte. Hier sei immer wieder das „Dilemma des Erwachsenenwerdens mit unglaublichem Leistungsdruck“ zu spüren.
Die Schüler wollen „unbedingt zu den Belastbarsten und Attraktivsten in unserer Gesellschaft dazugehören“.
Die EX-INler könnten hingegen in diesen Veranstaltungen eine andere Sichtweise repräsentieren: „Das Leben ist nicht glatt. Lebensläufe lassen sich in den seltensten Fällen planen. Im Leben gibt es immer wieder Einbrüche.
Man fährt besser damit, das anzunehmen, als es auszublenden und wegzudrücken.
Diese Brüchigkeit können EX-INler wunderbar aufzeigen, ohne anderen die Hoffnung zu rauben.“  Auch an anderen Stellen in dem Buch geht es um die Wirkungen von EX-IN auf die Gesellschaft. So meint die Supervisorin Elke Radermacher: „Immer mehr Menschen fühlen sich inzwischen an ihrem Arbeitsplatz mit der Arbeitsverdichtung überlastet … EX-Inler können uns ein Vorbild darin sein, in solchen Situationen diesen Missstand offen anzusprechen, ohne Angst haben zu müssen, dass dieses einem zum Nachteil ausgelegt wird.
EX-INler können uns darin helfen, Arbeitsplätze so zu gestalten, dass man in der Arbeit gesund bleibt. Und dass die Forderung einer Arbeit nach Maß nicht länger dazu führt, angefeindet und ausgesondert zu werden.
Friedrike Steier-Mecklenburg, Geschäftsführerin des Beruflichen Trainingszentrums in Köln, ist allerdings skeptisch, was die Verbreitung dieses Grundgedankens in der Wirtschaft angeht.
Ihr fällt dazu ihr Neffe ein, der Regionalleiter einer Versicherung sei und unter einem enormen Druck stehe. Würde sie ihm von solchen Gedanken erzählen, würde er antworten: „Bei uns gibt es leider keine Spielräume. Und zwar für niemanden.“  Auch erwähnt sie eine Untersuchung bei VW. Dort wurde ein Projekt zur seelischen Gesunderhaltung durchgeführt.
Die Reaktion der meisten Arbeiter und Angestellten war negativ: „Bleib mir weg damit! Ich werde doch vor meinen Kollegen keine Schwäche zeigen. Das ist mir viel zu heikel im Unternehmen.“ Hingegen ist Tom Klein, ein EX-IN Trainer optimistisch. Er meint: „Die psychiatrieerfahrenen Fachkräfte können auf lange Sicht die Arbeitswelt verändern.“ Wie sehen aber die praktischen Erfahrungen im Arbeitsleben mit den EX-INlern aus?
Ein immer wiederkehrendes Thema sind die Schwierigkeiten und Ängste von Mitarbeitern, wenn EX-INler im Team auftauchen. Dieter Schax hat da als Geschäftsführer des Reha-Vereins Mönchengladbach so seine Erfahrungen gemacht. „Das löst Sorgen und Ängste aus. Ich glaube, viele fühlen dadurch den eigenen Profistatus infrage gestellt. Da ist plötzlich jemand, der aufgrund seiner Lebens- und Krankengeschichte anders wahrnehmen kann und damit vielleicht erfolgreicher ist. Auch hieß es, die Stimmung könne umschlagen, wenn sich Koalitionen zwischen Nutzern und EX-INlern bilden würden.“  Ähnliche Erfahrungen hat auch Stefan Corda-Zitzen gemacht, der Geschäftsführer der Psychiatrischen Hilfsgemeinschaft in Viersen ist. „Kollegen fragen sich vielleicht: Was wollen denn jetzt diese EX-INler?
Warum kommen die schneller an Klienten ran? Nehmen die mir bald die Arbeit weg? Wollen die immer alles besser machen? Wollen die mir indirekt sagen,
ich habe in den letzen Jahren schlecht gearbeitet?” Da er aber von dem EX-IN Gedanken überzeugt sei, stelle er sich den Problemen, auch wenn  er sagt: „Das ist aus Chefperspektive anstrengend. Aber Ängste verschwinden nun mal nicht, indem man sie unter den Teppich kehrt. Und Vertrauen braucht Zeit, um wachsen zu können.“ Angelika Lecroix hingegen kann von überwiegend positiven Erfahrungen berichten, die die EX-INler in ihre Teams einbrachten.
So habe sich dort (Klinik Reinkenheide bei Bremerhaven) eine neue Gesprächskultur entwickelt. “Die EX-INler sind in Selbsterfahrung ausgebildet und sprechen eigene Verletzungen selbstverständlicher an. Sie können sich leichter öffnen und machen es damit den anderen Kollegen im Team leichter, sich ihrerseits zu öffnen.
Langsam tritt eine merkliche Veränderung und Entspannung ein. Dinge werden anders und offener thematisiert. Das baut Druck im Team ab. Da ist viel positive Gruppendynamik spürbar.”

Der Arzt Uwe Gonther hat in seiner Zeit in Reinkenheide (seit einem Jahr ist er Ärztlicher Direktor der Heines Klinik) von den Ex-Inlern auch persönlich profitiert: “Ich habe gelernt, das Thema Hoffnung wirklich ernst zu nehmen. Auch bei chronisch Kranken. Ich arbeite nun seit 25 Jahren als Psychiater und da gibt es naturgemäß gewisse innere Abnutzungserscheinungen und auch eine innere Entzauberung. Die wichtigste Lektion, die mir unsere Genesungsbegleiter immer wieder erteilen, lautet: Menschen mit schwerwiegenden psychiatrischen Krankheitsbildern nicht abzuschreiben.”

Auch Stephan Hekermann (Geschäftsführer von “Zukunft Leben”, einem ambulanten Träger in Düsseldorf) bekennt, wie er durch den Kontakt mit EX-INlern auch immer wieder auf eine Art und Weise herausgefordert wird, die ihn bereichert: “Mir fällt dazu ein Schlüsselerlebnis ein. Ich sitze mit unserer Genesungsbegleiterin Frau Westphal im Büro und wir machen ein bisschen Smalltalk. Frau Westphal erzählt, dass sie im Augenblick sehr schlecht schlafen kann und sie das, als möglicher Vorbote einer neuen Depression, beunruhigt. Bis ich irgendwann scherzhaft sage: `Jetzt ist aber mal gut! Wir sitzen hier doch nicht, um über ihre Depression zu reden.` So weit, so gut. Der Smalltalk geht weiter und irgendwann fange ich an, von meinem kaputten Mittelfinger zu erzählen. Ich hatte eine Kapselverletzung und musste mich deswegen ziemlich lange mit Krankengymnastik rumquälen. Da guckt mich Frau Westphal an und sagt mir direkt ins Gesicht: `Aha, Sie dürfen also über ihre Kapselverletzung reden, aber ich nicht über meine Depression.` “.

Andererseits gibt es eine Stelle in dem Buch, in der deutlich wird, dass die Situation  mit einem Mitarbeiter, der eine psychische Erkrankung hat, doch einen besonderen Umgang braucht.
Bettina Jahnke erzählt selber in einem der Interviews von ihrer Erfahrung, dass “der Arbeitgeber doch wissen muss, was er zu tun hat, wenn ich mit einer Psychose zur Arbeit erscheine. Das ist eine Lehre, die ich aus meiner Zeit bei meinem früheren Arbeitgeber gezogen habe.
Da mussten mich in der Krise Arbeitskollegen in die Klinik bringen.
Um mich zu entlasten, baten mich die Kollegen im Nachgang um konkrete Absprachen. Sie wollten wissen, wie sie mit mir im Fall der Fälle verfahren sollten.”
Deshalb habe sie bei ihrer jetzigen Anstellung ihrem Chef einen Notfallplan gegeben.

Insgesamt wird bei den Interviews deutlich, wie vielfältig die Menschen sind, die als EX-INler arbeiten, wo sie eingesetzt werden, mit welcher Verantwortung und Akzeptanz. Nebenbei erfahren wir in diesem Buch aber auch einiges sehr Interessantes über die psychiatrische Kultur in Deutschland und das sie in einigen Ländern ganz anders ist. Dabei kommt der Fähigkeit der einzelnen Menschen zum kooperativen Arbeiten und partnerschaftlichen Handeln in multiprofessionellen Teams eine große Rolle bei.
Wie kommt der Mensch aber dorthin?
Es wird in einigen Interviews deutlich, wie wichtig eine Ausbildung ist, die diese Anteile fördert. Die holländische Ausbildung zum Sozialarbeiter stellt in dem Buch dabei die eine Seite dar. Dort wird viel Wert auf diese Dinge in Kombination mit intensiver Selbsterfahrung gelegt.
Die deutsche Medizinerausbildung ist hier das Gegenstück.
Numerus Clausus, verschultes Studium, hierarchische Welten an Universitäten und Kliniken.
Somit fällt es Ärzten oft schwer, sich mit EX-IN anzufreunden. „Ich denke, Ärzte haben für diese Kooperation eine wenig vorbereitende berufliche Sozialisation hinter sich,“ meint die Supervisorin Elke Radermacher.